1321 - Das Haus der Schatten
verletzt?«
»Ich bin nur gestürzt.«
»Aber Sie haben sich nicht verletzt?«
»Weiß nicht.«
»Kommen Sie!«
Diesmal hatte ich sie überzeugt. Sie ergriff meine Hand. Dabei schaute sie jedoch nicht mich an, sondern meinen Freund Bill, der seitlich von uns stand und zuschaute. Er hielt sich mit einem Kommentar zurück. Die Überraschung auf seinem Gesicht war allerdings nicht gewichen. Diese Aktion hätte er seiner Nachbarin nicht zugetraut.
Unsere Hände hatten sich kaum berührt, da spürte ich, dass mit ihr etwas nicht stimmen konnte. Die Haut war so kalt. Nicht so wie Eis, einfach anders. Als wäre sie von innen erkaltet. Durch das Blut, das durch die Adern floss.
Als sie stand, schwankte sie, und ich hielt noch immer die Hand fest. Sie traf auch keinerlei Anstalten, sie mir zu entziehen, doch meine Frage hörte sie.
»Was ist mit Ihrer Haut geschehen, Mrs. Stone? Warum haben Sie eine so kalte Hand?«
»Kalte Hand?«
»Ja.«
Sie hob die Schultern und schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht, was Sie meinen.« Sie drückte ihre Finger zwischen den meinen zusammen und zog die Hand wieder zurück. Wie eine Statue blieb sie vor uns stehen, den Blick auf uns und zugleich ins Leere gerichtet.
Nichts an ihr bewegte sich. Selbst der Mund blieb geschlossen, und wir sahen auch kein Zittern auf ihren Lippen.
Ich ließ sie in Ruhe nachdenken, weil ich das auch tun wollte. In meinem Leben hatte ich schon oft genug tote Menschen anfassen müssen. Auch die hatten sich anders angefühlt als die Lebenden.
Das war bei Linda Stone auch der Fall, doch ihre Haut war anders kalt gewesen und nicht zu vergleichen mit der einer Leiche.
Ich suchte nach einer Beschreibung, war aber nicht in der Lage, eine zu finden. Kalt und trocken wie Papier, das in einem Kühlschrank gelegen hatte.
Aber sie war nicht tot. Sie war auch kein Zombie. Sie war etwas anderes, eine Frau, der man den Schatten genommen hatte. Genau das war unser Problem. Wenn wir herausfanden, wodurch sie den Schatten verloren hatte, waren wir unserem Ziel ein Stück näher gekommen.
»Ich denke«, sprach Bill Conolly sie an, »dass Sie uns jetzt etwas sagen sollten.«
»Was denn?«
»Es ist Ihre Erklärung.«
Sie war am Zug, denn sie hatte Bill verstanden, aber sie tat nichts, was ihn zufrieden gestellt hätte. Auch weiterhin wirkte sie wie eine Person, die gar nicht richtig in der Welt war. Sie war in sich verstockt und vergraben, und ihr Blick schien in eine völlig andere Welt gerichtet zu sein, die nur sie sah.
»Erinnern Sie sich noch, was wir Sie gefragt haben?«, nahm Bill das Wort wieder auf. »Wir haben gefragt, warum Sie keinen Schatten werfen. Das ist nicht normal, Mrs. Stone. Jeder Mensch wirft einen Schatten. Warum, zum Teufel, nicht auch Sie?«
»Ich will allein bleiben.«
»Das können Sie auch, wenn Sie uns alles gesagt haben. Wir wollen nur wissen, wie Sie Ihren Schatten verloren haben. Oder glauben Sie nicht, was wir Ihnen gesagt haben?«
Linda Stone hob die Schultern.
Es war mir klar, dass sie in ihrer eigenen Welt lebte. Sie war da und trotzdem woanders. Als Mensch wirkte sie wie ein Fremdkörper, doch sie war nicht allein in die Lage geraten, sondern dazu gemacht worden. Irgendjemand trug die Verantwortung.
Und dieser Jemand musste verdammt mächtig sein. Er hatte ihr den Schatten geraubt und womöglich ihr damit auch einen Teil der Seele genommen. Wer schaffte so etwas? Wer war dieser verdammte Schattenräuber? Kein normaler Mensch, sondern eine sehr mächtige Person oder Unperson, und meine Gedanken drehten sich dabei um einen Punkt, der auch mit einem Schattenreich zu tun hatte. Mit einer Welt, die aus Schatten bestand und in der es kein Licht gab.
Eine derartige Welt existierte. Ich kannte sie sogar. Es war die absolute Dunkelheit. Ein Reich ohne Licht, und dort regierte ein mächtiger Dämon.
Es war der Spuk!
Bill schien mir die Gedanken von der Stirn abgelesen zu haben, denn er fragte: »Glaubst du, dass es der Spuk gewesen ist?«
»Warum nicht?«
Mein Freund nickte. Dann hörte ich ihn leise lachen und danach fragen: »Was sollte der Spuk mit Linda Stone zu tun haben? Kannst du mir das bitte schön verraten?«
»Nicht ich, aber sie.«
Linda Stone hatte unserer Unterhaltung zugehört und sicherlich auch alles verstanden. Nur gab sie keinen Kommentar ab und gab sich völlig uninteressiert.
»Mrs. Stone«, sagte ich, »so kommen wir doch nicht weiter. Wir sollten vernünftig miteinander sprechen. Alles andere hat
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