1321 - Das Haus der Schatten
Nachteilen. Sterben wollte sie noch nicht, und erst recht nicht auf eine derart schlimme Art und Weise.
Mit dem Zeigefinger seiner linken Hand reinigte William Hollister die Klinge. Als er den Finger heftig bewegte, klatschten Tropfen zu Boden und blieben liegen.
Lady Sarah kam sich noch immer vor wie in einem Traum. Erst als sie die Kinderstimmen in der Nähe hörte, wurde sie wieder zurück in die Wirklichkeit gerissen. Sie schaute für einen Moment nach links und sah einen Mann kommen, der zwei Kinder an den Händen führte. Beide zogen jeweils einen kleinen Wagen hinter sich her, der mit Schaufeln und Harken beladen war. Sie kehrten vom Spielen zurück, waren aber nicht begeistert, wieder in das heiße Auto steigen zu müssen. Sie quengelten und versuchten, ihren Vater zum Bleiben zu überreden.
»Nein, es reicht.«
»Aber nur noch…«
»Auch nicht nur noch.«
Sie gingen weiter und blieben dann für einen Moment stehen, als sie auf gleicher Höhe mit Lady Sarah waren. Der noch junge Vater schaute von Sarah zu Hollister. Er wunderte sich über die beiden, die sich gegenüberstanden und nicht redeten.
Sarah hoffte nur, dass der Mann nicht das Messer in Hollisters Hand sah. Der hielt es so, dass es an der abgewandten Seite des Mannes lag.
»Kann ich was für Sie tun?«
»Nein, nein«, sagte Sarah schnell. »Es ist alles in Ordnung. Danke, dass Sie sich die Mühe gemacht haben.«
»Aber ich könnte…«
»Bitte, es ist alles in Ordnung!«
»Gehen wir wieder zurück, Dad?«
»Nein, wir fahren jetzt.« Der Mann nickte Sarah noch einmal zu und schritt zu einem weiter entfernt parkenden Van.
Er lud die Kinder ein. Dabei schaute er immer wieder zurück, um zu sehen, wie sich Sarah verhielt.
Sie versuchte, sich unter Kontrolle zu halten. Sie lächelte sogar, doch in ihrem Innern brodelte es. Sie fragte sich, was Hollister noch alles vorhatte und ob er sie so einfach wieder laufen lassen würde.
Sie konnte sich auch das Gegenteil vorstellen.
»Keine Schmerzen!«, flüsterte er, »es gibt keine Schmerzen mehr. Hast du gesehen?«
»Ja, das habe ich.« Sarah konzentrierte sich auf die Wunde im Körper des Mannes. Eigentlich hätte aus ihr das Blut strömen müssen, doch auch das passierte nicht. Wie von Geisterhänden bewegt musste die Wunde sich geschlossen haben.
»Ich bin unverletzbar.«
Sarah nickte ihm zu. »Ja, das habe ich gesehen. Und Sie besitzen keinen Schatten mehr.«
Er fing an zu kichern. »Richtig, alte Frau. Ich habe keinen Schatten mehr. Man hat ihn mir genommen. Es war alles so einfach und so wunderbar. Ich war im Haus ohne Schatten. Dort habe ich ihn verloren. Da gab es nur Licht. Das helle Licht, aber keine Schatten. Das Licht hat sie geraubt.«
Hollister lachte auf. Er wirkte plötzlich viel jünger und auch irgendwie erlöst. Es hätte nur noch gefehlt, dass er in die Luft gesprungen wäre, doch darauf verzichtete er. Stattdessen deutete er so etwas wie eine Verbeugung an.
»Du hast Glück gehabt, alte Frau. Ich werde dir nichts tun, denn ich gehe jetzt weg und lasse dich allein. Leider wirst du die Chance nicht bekommen, aber ich habe sie genutzt. Ohne Schatten, ohne Seele…« Er stieß ein hartes Lachen aus und drehte sich dabei um.
Dann ging er davon, als wäre nichts geschehen.
Lady Sarah bewegte sich nicht vom Fleck. Stocksteif stand sie da, und die Sonne brannte vom Himmel auf ihren Strohhut nieder. Sie konnte es nicht begreifen. Es war einfach zu viel für sie, obwohl sie in ihrem langen Leben schon einige Unwahrscheinlichkeiten erlebt hatte, die mit Logik nicht zu erklären waren.
Hollister ging bis an den Rand des Parkplatzes und war plötzlich verschwunden. Eigentlich hätte er in den Ford Focus steigen müssen. Das hatte er jedoch nicht getan.
Ob es einen besonderen Grund dafür gab oder nicht, das war Sarah unbekannt. Sicherheitshalber notierte sie die Autonummer, und erst jetzt fühlte sie sich wieder als Mensch im positiven und negativen Sinne. Positiv deshalb, weil sie noch lebte und negativ, weil sie merkte, dass sie trotz des Strohhuts unter der Hitze litt. Der heiße Sonnenschein schien sie ausgedörrt zu haben.
Hier bleiben konnte sie nicht.
Jane Collins, die in ihrem Haus lebte, war unterwegs, und das nicht in London. An sie konnte sich Sarah nicht wenden.
Aber sie hatte Freunde, die sich bestimmt sehr dafür interessierten, ihr zwar wieder Vorwürfe machen würden, weil sie sich in Gefahr begeben hatte, doch das lag in diesem Fall nicht an ihr.
Hart
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