1322 - Das Grauen von St. Severin
einen leichten Stich.
Es stimmte!
Er schaute direkt auf den Mönch!
***
Die Wahrheit kann manchmal grausam sein. Daran musste der Hotelier denken, als er starr auf der Stelle stand. Okay, er hatte es schon vorher geglaubt, wenn die Menschen ihm davon erzählt hatten, doch diese Gestalt mit eigenen Augen zu sehen, das war schon etwas anderes. Da wallten wieder Erinnerungen hoch. Auch an einen Mann namens John Sinclair, der es letztendlich geschafft hatte, den verdammten Mörder-Mönch von Keitum zu vernichten.
Jetzt gab es ihn wieder!
Das war kein Irrtum. Keine Täuschung. Da machte er sich nichts vor und er sah tatsächlich so aus wie damals. Nichts hatte sich bei ihm groß verändert.
Claasen hörte sich selbst aufstöhnen. In seinem Kopf rotierten die Gedanken, Vermutungen und auch Halbwahrheiten. Er merkte selbst, dass er wieder zitterte, schaute sich um, als könnte er jemanden um Hilfe rufen, aber da war niemand. Um diese Zeit hielt er sich allein an der Kirche auf.
Das ist nicht der echte Mönch!, hämmerte er sich ein. Auf keinen Fall ist er das. Es gibt einen zweiten. Jemand hat ihn hergebracht.
Einer, der den Fall noch mal aufrollen wollte. Die Figur hatte plötzlich an dieser Stelle gestanden. Niemand aus dem Ort war informiert worden, und es hatte sich auch keiner getraut, irgendwelche Fragen zu stellen. Zu tief saß noch die Erinnerung an das letzte Geschehen.
Warum nur?, fragte er mit seiner inneren Stimme. Warum ist diese verdammte Figur zurückgekehrt? Sie glich dem echten Mönch vom unteren Saum des Gewands bis hin zur Kapuze.
Und wieder ging etwas Unheimliches von der Figur aus. Sie stand zwar einfach da, aber wer dieses Kunstwerk sah, der sah sich gezwungen, einen Bogen um es zu schlagen. Er wollte auf keinen Fall in die Nähe gelangen. Oder erst nach dem zweiten Versuch.
Claas Claasen schlug keinen Bogen. Er ging auf die Figur zu.
Eigentlich wollte er es nicht, doch da war die andere Kraft, die ihn wie am Haken hielt und immer näher an den Mönch heranzog. Er hörte seinen eigenen Herzschlag lauter als gewöhnlich. Über der gesamten Insel schien eine Glocke des Schweigens zu liegen, oder hielt die Stille nur den Friedhof und die Kirche umfangen?
Der Mönch rückte mit jedem Schritt näher und Claasen sah ihn immer deutlicher.
Er stand frei und trotzdem in einer gewissen Deckung oder einem Schutz. Wie ein armer Büßer hockte die Gestalt auf dem Rasen. Hinter ihm bauten Sträucher einen halbrunden Wall. Weiter rechts konnten die alten Grabsteine besichtigt werden. Vor hunderten von Jahren waren sie bereits in die Erde gestemmt worden. Auf ihnen standen die Namen der Seeleute, die auf dem Meer umgekommen waren. In der Regel die der Kapitäne, und auch die entsprechenden Abschiedsworte waren in den Stein gehämmert worden. So konnten die Besucher all das lesen, was die Vergangenheit für sie zurückgelassen hatte.
Claas hätte sich auch lieber für die Grabsteine interessiert, doch ihm blieb der sitzende Mönch, der auf ihn wartete. Er war für ihn wie ein Magnet, und Claas fühlte sich als Eisen.
Näher und näher kam er. Deutlich merkte er sein Unwohlsein, gegen das er vergeblich ankämpfte. Es fiel ihm schwer, gewisse Dinge zuzugeben, doch er musste sich eingestehen, dass der Mönch die Kontrolle über ihn bekommen hatte.
Claas Claasen war und blieb allein, bis er stoppte, als hätte er wieder einen Befehl bekommen.
Plötzlich überkam ihn eine große Ruhe. Die Welt um ihn herum verschwand. Alles rückte zusammen, so dass die Umgebung schließlich nur einen kleinen Ausschnitt bildete. Geprägt allein durch den Mörder-Mönch.
Der Künstler, der ihn geschaffen hatte, war ein Meister seines Fachs gewesen. Er bestand aus Stein, der allerdings eine Patina bekommen hatte. Die Farbe war nicht genau zu bestimmen. Man konnte sie als Grün und Blau bezeichnen, die bessere Beschreibung wäre Türkis gewesen. So wie manchmal das Meer schimmerte.
Der Mönch saß. Er hatte seine Arme ausgestreckt und war so angelegt worden, als lägen die Hände auf den Knien.
Der Künstler hatte es geschafft, sogar die Falten seines Gewands so hinzubekommen, als wäre der Stoff tatsächlich echt. Eine Kapuze bedeckte den Kopf, den es in Wirklichkeit nicht gab, denn innen war die Figur hohl und finster.
Claasen schluckte. War sie das wirklich? Gab es nicht in dieser Figur etwas, das lebte?
Er hatte seine Zweifel. Auch wenn er nichts sah, als nur diese tiefe und tintige Schwärze, so konnte er den
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