1322 - Das Grauen von St. Severin
Gefängnis. Der eigene Wille war ausgeschaltet worden. Es gab nur die verfluchte Figur in ihrer künstlerischen Perfektion, doch mit einer innerlichen Grausamkeit gefüllt, die ihm Angst machte.
Dann waren sie da!
Oder nicht?
Schwebten sie nun zwischen der Figur und ihm oder…
Er war nicht mehr in der Lage, seine Gedanken weiterzuführen.
Etwas hatte ihn erreicht, das wusste er. Aber er wusste auch, dass er dieses Etwas nicht erklären konnte. Es war der Bann des Unheimlichen, der sich über Claasen gelegt hatte.
Der Schlag erwischte ihn!
Nicht mit der Faust oder mit irgendeinem Gegenstand, es war mehr das Fallen einer inneren Klappe, die dafür sorgte, dass sich alles veränderte. Claas merkte, dass er wieder zu einem Menschen wurde. Sein wahres Ich stieg wie der Vogel Phönix aus der Asche der alten und ihm bekannten Welt entgegen. Er konnte endlich wieder durchatmen. Zwar stand er noch immer vor der Gestalt, aber das war jetzt etwas anderes, denn er brachte es fertig, sie anzusehen wie ein ganz normaler Spaziergänger, den der Weg zur Kirche geführt hatte.
Er war wieder normal. Er atmete tief durch. Er drehte sein Gesicht gegen den Wind und nahm den abendlichen Geruch der Natur überdeutlich wahr.
Der Mönch war nicht vergessen, er stand ja noch vor ihm und er blickte ihn auch an. Nur wurde er jetzt von ihm nicht mehr beeinflusst. Claas sah ihn als eine neutrale Figur an oder als ein wirklich gelungenes Kunstwerk.
»Geschafft«, flüsterte der Hotelier vor sich hin. Er war den Weg gegangen und würde ihn auch wieder zurückgehen. Er würde sich in den Wagen setzen, zum Hotel zurückfahren und seiner Frau erklären, dass alles in Ordnung war. Danach würde er seinen Platz hinter der Bar annehmen und die Bierchen in die Gläser drehen oder die leckeren alten Pflaumen servieren.
Alles war gut. Alles okay. Das Leben ging weiter. Es gab den Mönch, doch das interessierte ihn nicht.
Zufrieden öffnete er die Autotür und setzte sich hinter das Lenkrad. Für eine Weile blieb er so sitzen. Obwohl Claas auf der Insel geboren war, genoss er den Ausblick, der sich ihm bot. Die Abenddämmerung hatte den Himmel rot werden lassen. Eine wunderbare Farbe. Dass die Augen des Mönchs ähnlich gewesen waren, daran dachte er in diesen Augenblicken nicht. Er freute sich über das Bild.
Nie würde er sich einen anderen Wohnort suchen. Die Insel war seine Heimat.
Der Hotelier startete den Wagen. Sekunden später befand er sich auf dem Rückweg. Er pfiff einen Schlager vor sich hin. An die roten Höllenaugen in der Schwärze unter der Kapuze dachte er nicht mehr…
***
Anja Claasen stand vor dem Hotel nahe des Fahnenmasts und sprach mit einem Gästeehepaar, das sehr bald im Hotel verschwand und die Frau mit den blonden Haaren wieder allein ließ.
Sie hatte es nebenan im Haus nicht ausgehalten. Ihr war alles zu eng geworden, und so wollte sie vor den beiden Schafweiden, durch die der Weg zum Hoteleingang führte, warten.
Die Sorgen steigerten sich noch, als sie auf der Straße den dunklen Mercedes sah. Unwillkürlich krampften sich ihre Hände zu Fäusten zusammen. In den nächsten Sekunden würde sie erfahren, wie es ihrem Mann ergangen war. Seine Fahrweise jedenfalls war normal, und sie veränderte sich auch nicht, als er in den Weg zwischen den beiden Weiden einbog und auf den Eingang zufuhr.
Claas fuhr auf seinen Parkplatz, der dem Chef gehörte und stieg aus. Er hatte seine Frau schon gesehen und winkte ihr jetzt zu, als sie ihm entgegenkam.
»Und?« Anja konnte nicht mehr an sich halten. »Was ist geschehen? Hast du es geschafft?«
Claasen wuchtete die Tür zu. »Ja, das habe ich. Ich war oben an der Kirche und habe vor dem Mönch gestanden.«
»Weiter!«
»Nichts weiter. Es gibt ihn tatsächlich. Täuschend nachgemacht. Er sieht so aus wie derjenige, der vernichtet worden ist. Ich denke, wir brauchen keine Furcht zu haben, dass sich das Grauen noch mal wiederholt. Die Normalität hat uns wieder.«
»Gott, wie mich das freut.« Anja musste ihren Mann einfach umarmen, und auch Claas war froh, seine Frau in den Armen halten zu können. Er spürte den gleichen Strom des Glücks in sich, der ihn auch beim Wegfahren von der Kirche überfallen hatte.
»Musst du in die Bar?«, flüsterte Anja.
»Schon.«
»Ich wollte, du könntest in der Nacht bei mir bleiben.«
»Mal sehen, wie lange es dauert.«
»Wenn die Gäste vom Essen zurückkommen, haben sie Durst. Aber okay, ich bin ja so froh, dass dir nichts
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