1324 - Der Angriff
gegönnt worden. Einer Frau wie ihr bestimmt. Lady Sarah hatte es wirklich nur gut mit den Menschen gemeint.
In derartigen Augenblicken geht einem Menschen das Zeitgefühl verloren. So war es auch bei mir. Ich wusste nicht, wie lange ich auf der Stelle gestanden hatte, als ich plötzlich ein Geräusch hörte, das mich erweckte. Der Laut war nicht zu beschreiben. Er konnte von einem Tier ebenso wie von einem Menschen stammen, aber er hatte mich aus der Lethargie gerissen, und ich drehte mich zur Seite.
Jane Collins hatte ihn ausgestoßen.
Auch ihr war jetzt klar geworden, dass sie kein Wort mehr mit Lady Sarah würde sprechen können. Lange hatte sie bei ihr gewohnt, und jetzt war es vorbei.
Sie weinte. Sie klammerte sich am Türrahmen fest, um nicht in die Knie zu brechen. Sie blickte mich an, aber sie sah mich nicht, weil ihre Augen voller Tränen waren. Noch immer verließen die Geräusche ihren Mund, die so schlimm klangen.
Ich war selbst von der Rolle und hätte am liebsten meine Wut, meine Trauer und meinen Schmerz hinausgeschrien, aber ich schaffte es nicht. Ich bekam keinen Laut hervor und stand auf der Türschwelle, als hätte man mich angenagelt.
Plötzlich rannte Jane weg. Bei den ersten Schritten hörte ich noch ihren verzweifelten Schrei, der mir so schlimm unter die Haut drang. Irgendwo wurde wenig später eine Tür aufgerissen und fiel mit einem Knall wieder zu.
Dann war ich mit der Toten allein!
Janes hektische Bewegung hatte auch mir meine Starre genommen. Ich tat, was ich tun musste, und ging mit kleinen Schritten in die Küche hinein auf Lady Sarah zu.
War sie wirklich tot?
Noch hatte ich es nicht genau festgestellt, doch mich hatte der erste Eindruck bei solchen Dingen selten getrogen. Ich musste es herausfinden, wich dem auf dem Boden klebenden Blut so gut wie möglich aus und kniete mich neben meiner mütterlichen Freundin nieder.
Ich fühlte nach.
Kein Puls!
Kein Herzschlag!
Kein Zucken der Hauptschlagader!
Es gab keinen Zweifel. Vor mir lag Lady Sarah, die nie mehr das Licht der normalen Welt erblicken würde, obwohl ihre Augen offen standen. Wie oft hatte sie sich in Gefahr begeben. Wie oft hatten wir sie dann daraus hervorgeholt, und wie oft hatten wir sie davor gewarnt, sich nicht in Gefahr zu begeben.
Sie hatte sich in der letzten Zeit zurückgehalten. Sie war auch älter geworden. Große Aktivitäten konnte man von ihr nicht mehr verlangen. Das hatte sie schließlich eingesehen.
Nicht weit entfernt lag ihr Stock. Auf den hatte sich Lady Sarah immer wieder verlassen, doch an diesem Tag hatte er ihr nicht geholfen.
Mein Blick glitt über ihren Körper. Überall sah ich die verdammten Wunden. Das Kleid war zerfetzt. Der Stoff sah aus wie mit Messern zerschnitten, und auch die Wunden darunter boten einen schlimmen Anblick. Das Blut hatte sich auf dem gesamten Körper verteilt. Richtig dick lag es an ihrer Kehle. Da sah es aus wie gestockter roter Schaum. Ich musste kein Hellseher sein, um herauszufinden, dass der Kehlenbiss tödlich gewesen war.
Auch ich merkte jetzt, dass ich wie ein Mensch reagierte. Ich spürte diesen verdammten Druck im Hals und auch, dass mir die Tränen in die Augen stiegen. Zurückhalten konnte ich sie nicht mehr. Sie liefen mir an den Wangen entlang, und gleichzeitig breitete sich in mir Hass aus.
Der Hass auf den oder die Killer!
Es lag auf der Hand, wer Lady Sarah umgebracht hatte. Ich brauchte nur an den Angreifer zu denken, der mich in der Tiefgarage überfallen hatte. An sein Gebiss, an diese spitzen Zähne.
Sarah Goldwyn war ihnen nicht mehr entgangen. Bei ihr hatten die verdammten Vampirmonster voll zugeschlagen. Sie hatten sich das richtige Opfer ausgesucht, und ich verfluchte mich selbst, dass ich nicht schon früher zu ihr gefahren war. Bestimmt hätte ich ihr zur Seite stehen können. So aber war alles vergebens.
Als letzte Geste des Abschieds streichelte ich über ihr Gesicht.
Die Haut war so dünn, und sie fühlte sich sehr glatt an. Mein Gott, was hatten die Augen so fröhlich und auch willensstark blicken können, nun aber war der Blick leer, und er würde sich auch nicht mehr füllen, das stand fest.
Ich schloss ihr die Augen. Während ich das tat, merkte ich, dass ich immer stärker weinte. Es war mir nicht möglich, den Strom der Tränen zu stoppen. Das musste einfach raus. Es konnte sein, dass ich mich später erleichtert fühlte.
In meinem Kopf trieben auch keine Rachegedanken. Ich dachte nicht an Vergeltung. Ich war
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