1327 - Lady Sarahs Totenfrau
befand.
Das Messer setzte ich dort an, wo sich der Oberschenkel der Frau befand. Es war der linke, und noch einmal bewunderte ich die so echt wirkende Farbe.
Ich hatte einen leichten Druck ausgeübt. Es passierte noch nichts.
Ich verstärkte den Druck, schabte etwas »Haut« weg – und hörte plötzlich den leisen Schrei.
Zugleich sah ich den roten Tropfen, der aus der Wunde gequollen war…
***
Blitzschnell zuckte die Hand mit dem Messer wieder in die Höhe.
Mir stockte der Atem, und die Kehle kam mir vor wie zugeschnürt.
Ich drehte mich auf der Stelle, aber es stand niemand in der Nähe, der diesen Schrei ausgestoßen haben konnte. Auch im Flur sah ich keine Person, denn Jane Collins war längst nach oben verschwunden.
Da ich den leisen Schrei nicht von mir gegeben hatte, gab es nur eine Möglichkeit.
Es musste die Frau sein!
Jetzt stand für mich endgültig fest, dass sich ein Geheimnis um dieses Bild rankte. Es sah so normal aus, doch genau das war es nicht. Es steckte etwas dahinter. Eine andere Macht oder Kraft, und diese schwarzhaarige Person stand damit in einem unmittelbaren Zusammenhang.
Ich blickte mir die Person genauer an. Dabei konzentrierte ich mich auf das Gesicht. Der Schrei musste aus dem Mund gedrungen sein, aber verändert hatte sich dort nichts. Er war nach wie vor geschlossen, und auch der glatte Gesichtsausdruck hatte sich nicht verändert. Auch der Blick der Augen war derselbe geblieben. Geheimnisvoll, düster und forschend, als wollte er in die Seele des anderen schauen.
Die Wunde!
Sie war keine Täuschung. Es gab sie wirklich. Sie malte sich dunkel am Oberschenkel ab, und es konnte sich nur um Blut handeln.
Kein normales Menschenblut allerdings, dessen Farbe war anders.
Sie hatte bereits einen Stich ins Bräunliche bekommen und wirkte auf mich auch wie ein sehr dicker Öltropfen.
Ich tippte mit der Spitze des Zeigefingers dagegen. Schon eine erste Berührung reichte aus. Dieses Zeug war zähflüssiger als das normale Blut eines Menschen. Auch dicker. Vergleichbar mit Öl oder einem Schmierfett.
Das Messer hatte eine Reaktion gezeigt. Ich brauchte es nicht mehr einzusetzen. Jetzt stellte sich die Frage, ob auch mein Kreuz etwas bewirkte.
Ich holte tief Luft. Mein Herz schlug schneller, aber ich unterließ den Versuch. Ich wollte nicht, dass ich etwas zerstörte, und zog mich zurück. Das Bild lief mir nicht weg, und ich wollte natürlich Jane Collins informieren.
Mit leisen Schritten stieg ich die Stufen der Treppe hoch. Von Jane hörte ich nichts. Erst als ich das Archiv unter dem Dach betrat, klang mir ihr leises Lachen entgegen.
»Was gefunden?«, fragte ich.
Jane saß vor dem Computer und zuckte zusammen. Mit meinem Erscheinen hatte sie nicht gerechnet.
Trotz der schrägen Wände war der Raum unter dem Dach ziemlich groß. In ihm befand sich Sarah Goldwyns Schatz und auch ein Teil ihres gewaltigen Erbes. Regale, wohin man schaute. Vollgestopft mit Büchern, Kassetten, CDs, DVDs und Disketten. Da hier eine Klimaanlage eingebaut worden war, herrschte eine angenehme Arbeitstemperatur. Die großen Fenster bestanden aus Sicherheitsglas, das auch härtesten Hagelschauern standhalten würde.
Ich stellte mich neben Jane. Bevor ich einen Blick auf den Bildschirm werfen konnte, rollte sie mit dem Stuhl zurück und sagte:
»Ich glaube, John, dass ich fündig geworden bin.«
»Ehrlich?«
»So genau weiß ich es nicht.« Sie deutete auf einen Stapel unterschiedlicher Bücher, der rechts neben dem Bildschirm einen kleinen Turm bildete. »Ich habe sie mal durchgeblättert und…«
»Eine Zwischenfrage. Was steht darin?«
»Es sind Berichte und Erzählungen über Frauen. Ich habe mal die weggelassen, die als Heilige verehrt werden. Auch bei den Mystikerinnen war ich skeptisch, und so habe ich mir die Frauen vorgenommen, die in der Mythologie nicht eben positiv gezeichnet werden, wobei ich die asiatischen und afrikanischen weggelassen habe.«
»Hast du Erfolg gehabt?«
»Langsam, John, langsam. Ich habe erst die Diskette gefunden und sie eingelegt. Wir können gemeinsam schauen. Du in dem Buch und ich hier auf dem Schirm.«
»Wo ist das Buch?«
»Es liegt obenauf.«
Ich nahm es in die Hand. Besonders dick war es nicht, aber es sah recht alt aus. Wahrscheinlich hatte Lady Sarah es auf einem ihrer Spaziergänge über einen Flohmarkt erworben. Da hatte sie schon so manchen Schatz geborgen.
Ich holte mir einen Stuhl und nahm dort Platz, wo es etwas heller war. Um es
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