1327 - Lady Sarahs Totenfrau
Zweifel. Es ist ihr Geist gewesen, den wir nicht sehen. Er hat sich in der Totenwelt versteckt. Er taumelt durch den Raum zwischen Diesseits und Jenseits. Er wird und kann keine Ruhe finden. Das jedenfalls ist meine Ansicht.«
»Dann werden wir ihn wohl locken müssen.«
»Und wie willst du das anstellen?«
Ich ließ mir Zeit mit meiner Antwort und schaute auf das Bild.
Die nackte Person störte. Der Hintergrund war in diesem Fall wunderbar. Er passte haargenau in das Motiv eines Heiligenbildes hinein. Dass dort diese Totenfrau abgebildet war, empfand ich als einen Anachronismus, aber er musste etwas zu bedeuten haben.
Mit dem Kreuz hatte ich das Bild noch nicht in Kontakt gebracht.
Es war die letzte der Möglichkeiten, auch die stärkste, und ich setzte darauf, mit diesem eine Lösung zu finden oder zumindest einen Teil davon.
»Das hatte ich mir gedacht«, sagte Jane leise, als sie sah, wie ich das Kreuz hervorholte.
»Hast du einen besseren Vorschlag?«
»Nein.«
Ich brauchte einfach Gewissheit. Es konnte sein, dass Lysana für uns gefährlich war.
Ich dachte auch an Lady Sarah Goldwyn, die ihre ewige Ruhe finden sollte, und ich hatte das unbestimmte Gefühl, dass dies nicht der Fall sein würde, wenn ich nichts unternahm. Mit diesem Erbe hatte keiner von uns rechnen können. Wahrscheinlich wollte Sarah, dass wir uns mit dem Bild beschäftigten und es zerstörten, damit sie im Tod nicht gestört wurde.
Es waren verrückte Gedanken, aber zu weit weg warf ich sie nicht. Das hatte mich die Erfahrung gelehrt.
Ich stand am Tisch, brachte das Kreuz in die Nähe des Bildes und zielte dabei auf das Gesicht der schönen Totenfrau, in dem sich nichts bewegte.
Ich merkte die Spannung. Ich wusste plötzlich, dass etwas passieren würde – und hatte mich nicht getäuscht.
Hitze strahlte das Kreuz nicht ab. Doch aus dem Bild schlugen plötzlich Flammen hervor. Sie fegten fauchend gegen mein Gesicht, und ich zuckte mit einer hastigen und wilden Bewegung zurück.
Automatisch riss ich die Arme in die Höhe, um mich zu schützen.
Hände schlugen gegen meine Schultern. Sie krallten sich dort fest. Dann zerrte mich Jane Collins hin bis zur offenen Tür. Erst dort blieben wir stehen.
Uns beiden war nichts passiert. Dafür dem Bild. Denn dort, wo es gelegen hatte, schwebte eine graue Rauchwolke über dem Tisch.
Wir sahen keine Flammen mehr. Das Gemälde war durch den einzigen Feuerstoß radikal zerstört worden.
Der Rauch blieb noch für einige Sekunden in dieser Formation.
Erst langsam löste er sich auf. Eigentlich hätte ein scharfer Geruch in unsere Nasen strömen müssen, aber die Luft blieb neutral. Wir rochen nichts und schauten auf das, was auf dem Tisch lag.
Es war das Bild. Es war es aber trotzdem nicht, denn das Motiv war verschwunden. Keine Lysana mehr, kein Bischof, keine Engel, die beide umschwebten, es gab nur das Rechteck aus altem Holz, auf dem der Künstler das Bild gemalt hatte.
Ich wusste nicht, ob ich mir Vorwürfe machen sollte. Auch Janes Stimme klang neutral, als sie sagte: »Jetzt haben wir es zerstört, John. Jetzt ist Lysana frei.«
Daran hatte ich auch gedacht, aber ich wollte es nicht so einfach hinnehmen und flüsterte: »Dann fangen wir sie eben wieder ein.«
»Auf meine Unterstützung kannst du rechnen.«
Wieder näherten wir uns dem Tisch und blieben direkt davor stehen. Unsere Blicke schweiften über das Bild hinweg, das kein Motiv mehr zeigte, nur das braune Holz.
Habe ich sie wirklich befreit?, dachte ich. So richtig konnte ich daran nicht glauben. Es konnte auch sein, dass sie durch den Einsatz meines Kreuzes in einen anderen Zustand versetzt worden war. Dass ihr Geist mehr Kraft gefunden hatte, um wieder irgendwelche Aufgaben zu erfüllen.
Als ich mich mit diesen Gedanken beschäftigte, ging es mir gar nicht gut.
Fehler macht jeder Mensch. Keiner ist unfehlbar. Ich war es erst recht nicht. Aber ich hatte es bisher immer wieder geschafft, die Fehler zu korrigieren, und so hoffte ich, dass es mir in diesem Fall auch gelang.
Jane stand neben mir und schaute zu, wie ich mit der flachen Hand über das Holz hinwegstrich. »Nichts zu fühlen«, sagte ich leise. »Es ist nichts zurückgeblieben.«
Jedes Motiv auf dem Totenbild war verschwunden. Der Bischof, die Engel und natürlich Lysana.
Verschwunden schon, aber nicht endgültig weg!
Beweise hatte ich nicht. Ich konnte mir nur gut vorstellen, dass ich sie noch mal treffen würde. In einer anderen Form, in einem anderen
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