1330 - Die Kopfgeldjägerin
nicht mehr, nach vorn zu gehen, denn ein Geräusch bannte ihn auf der Stelle. Suko besaß ein feines Gehör, und er war sich hundertprozentig sicher, dass er den Klang eines Schusses gehört hatte…
***
Manchmal gibt es im Leben Situationen, in denen die Zeit einfach stehen zu bleiben scheint.
Eine solche erlebte ich, denn was ich zu sehen bekam, war ungeheuerlich und zugleich unglaublich. Aber so reagierte nur jemand, dem alles egal war und der nichts zu verlieren hatte.
Elsa Gunn hatte tatsächlich auf Amy Bulder geschossen!
Nur drückte sie kein zweites Mal ab, sondern schwenkte den Revolver sofort herum, um mich in Schach zu halten.
Ich hätte sowieso nichts getan. Ich war einfach zu sehr überrascht worden. Die Kugel hatte nicht tödlich getroffen, aber sie steckte in der linken Schulter der Frau und Mutter.
Mrs. Bulder blieb stehen. Der Ausdruck der Ungläubigkeit erschien auf ihrem Gesicht. Sie konnte es wohl nicht fassen, und sehr langsam drehte sie den Kopf nach rechts, um die Stelle sehen zu können, die von der Kugel getroffen worden war.
Es spritzte kein Blut aus der Wunde. Eine Ader war nicht erwischt worden. So gab es nur eine Fleischwunde. Doch auch die war schlimm genug.
Plötzlich sackte sie zusammen. Amy Bulder fand einfach nicht mehr die Kraft, auf ihren Beinen zu stehen. Aus ihrem Mund drang ein Wehlaut, der selbst mir schmerzte. Sie tastete noch nach dem Tisch. Ihre Handfläche hatte die Platte kaum berührt, da brach die Frau endgültig zusammen. Zuerst sah es aus, als könnte sie noch auf der Stuhlfäche sitzen bleiben, aber sie hatte nur den Rand der Sitzfläche erwischt und ruschte von ihr ab. Am Boden blieb sie liegen.
Ich zuckte. Ich wollte los, aber Elsa hatte das Kommando. »Beweg dich nicht, Sinclair. Wage es nicht. Ziehe es nicht mal in Erwägung.«
»Okay, du hast gewonnen.«
»Das weiß ich.«
Jetzt reagierten auch die Kinder. Diesmal war es die Tochter, die etwas sagte.
»Mummy, was ist denn? Was hast du?«
Sie wollte aufstehen, aber ihre Mutter stöhnte ihr zu, dass sie sitzen bleiben sollte.
»Was ist denn mit dir?«
»Man hat auf Mum geschossen!«, sagte der Junge, der schon etwas älter war. Tränen liefen über sein Gesicht. Er begriff nicht, dass so etwas überhaupt hatte geschehen können.
Auch das Mädchen fing an zu weinen, doch die Geschwister taten nichts und blieben sitzen. Dafür bewunderte ich sie. So hätten nicht alle Kinder reagiert. Die meisten von ihnen wären durchgedreht, was zudem völlig normal gewesen wäre. Bei diesen beiden musste der Schock so tief sitzen, dass sie nur noch gehorchten. Da folgten sie einem Automatismus, der ihren Überlebenswillen lenkte.
Elsa Gunn lächelte mich scharf an. »Dass die Menschen nicht gehorchen können«, sagte sie spöttisch. »Immer wieder wollen sie ihren eigenen Kopf durchsetzen, aber es gibt nur eine Person, die hier die Befehle gibt und die Zeichen setzt. Das bin ich!«
Das glaubte ich ihr aufs Wort. Nur hatte mich die letzte Aktion wieder einen Schritt näher an mein Ende herangebracht.
Da ihr von Amy Bulder keine Gefahr mehr drohte, verließ Elsa Gunn ihren Platz. Die Mündung der Waffe zeigte weiterhin auf mich, und als die Kopfgeldjägerin ging, war kein Laut zu hören. Sie konnte schleichen wie eine Katze.
In einer günstigen Entfernung blieb sie stehen. Wenn sie jetzt abdrückte, konnte sie mich nicht verfehlen. Noch lächelte sie. Aber dieses Lächeln versprach den Tod und war kalt wie eine Eisdusche.
»Du hast dich ja an die Regeln gehalten, Sinclair. Bisher jedenfalls. Bullenehre, wie?«
»Es ging mir um die Menschen.«
»Ja, ja, ich weiß, der große Moralist. Aber so kommen wir nicht weiter, das sollte dir klar sein. Erst das Fressen und das Gefressen werden, dann kommt die Moral. So hat es doch mal ein deutscher Dichter gesagt, nicht wahr?«
»So ähnlich.«
Es wurde allmählich eng, und ich wurde wieder an die schreckliche Zeit auf dem Friedhof erinnert. Der innere Druck war da, und über meinen Rücken liefen die kalten Kügelchen aus Schweiß. Auch mein Nacken war nass und glatt, und ich dachte daran, dass Suko allmählich kommen musste. Etwas musste einfach geschehen. Und wenn er nur einen Stein durch ein Fenster warf, um die Person abzulenken.
»Es nähert sich dein Ende, Sinclair.«
Das hätte sie mir nicht zu sagen brauchen, das wusste ich auch so.
Ich schaute in ihre Augen. Wieder mal. Es hatte sich nichts an ihrem Blick verändert. Er war noch immer kalt und gnadenlos.
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