1334 - Der Ghoul und die Witwe
aber längst nicht alle.
Von diesen Gedanken durchtrieben, wanderte Kersher durch die Wohnung. Er erinnerte sich wieder an den letzten Anruf der Detektivin. Der war so etwas wie eine Warnung gewesen. Ja, so musste es sein. Den Wortlaut hatte er fast vollständig behalten. Jane Collins hatte ihn vor den Gefahren gewarnt.
Aber die lauerten nicht in seiner Nähe. Sie hielten sich auf dem Friedhof verborgen.
Stimmte das wirklich?
Plötzlich war er sich nicht mehr ganz so sicher. Das Haus und der Friedhof lagen dicht beisammen, praktisch nur durch eine Straßenbreite getrennt. Was also sollte die Gestalten davon abhalten, den Friedhof zu verlassen und zu den Menschen zu gehen?
Hatte sie das gemeint?
Je mehr er darüber nachdachte, desto mehr festigte sich der Gedanke in ihm. Es war bestimmt nicht nur der Friedhof, auf dem sich die Gestalten aufhielten. Diese Straße lag recht einsam. Kaum jemand würde Zeuge sein, wenn eine derartige Gestalt in der Dunkelheit die Fahrbahn überquerte. Das konnte immer heimlich und glatt geschehen.
Dieser Gedanke ließ den Mann nicht los. Er peitschte ihn auf. Er machte ihn noch nervöser, und immer wieder bewegte er seine Hände. Er wischte die schweißfeuchten Handflächen an den Hosenbeinen ab.
In ihm vermischten sich Angst und Neugier. Vor seiner Wohnungstür blieb Kersher stehen. Er kam sich in diesen Augenblicken sehr fremd vor. Er neigte das Ohr gegen das Holz, um zu lauschen. Im Flur blieb alles ruhig. Zumindest hörte er nichts.
Trotzdem blieb das Misstrauen. Noch zögerte er damit, die Tür zu öffnen. Er kam sich jetzt vor wie ein kleiner Junge, der sich nicht traute, in einen dunklen Keller zu gehen.
Schließlich überwand er sich selbst. Er öffnete die Tür und streckte seinen Kopf durch den Spalt.
Im Hausflur war es dunkel. Zu sehen war so gut wie nichts, nur die Andeutung eines Geländers.
Aber die Dunkelheit hatte seine anderen Sinne geschärft. Für den Geruch, zum Beispiel.
Kersher schnupperte.
Roch es nicht anders?
Eine genaue Antwort blieb ihm verwehrt. Er brauchte nur daran zu denken, dass es in diesem Hausflur nie nach Lavendel oder Jasmin gerochen hatte. Es war immer ein besonderer Geruch gewesen, ja, schon ein Gestank, und nicht wenige Mieter hatten sich darüber beschwert. Es lebten ja nur ältere Leute im Haus, denen die unmittelbare Nähe zum Friedhof nichts ausmachte.
Heute empfand er den Geruch als stärker. Es roch nicht nur muffig, sondern auch irgendwie verfault. Als hätte jemand altes Fleisch in der Ecke liegen gelassen, das jetzt, durchzogen von Maden, vor sich hinfaulte.
Lou Kersher lebte lange in diesem Haus, aber der Bau war ihm jetzt fremd geworden.
In die Wohnung wollte Kersher auch nicht mehr zurück. Er hatte etwas anderes vor und verließ seine Bude. Erst mal schaltete er das trübe Licht ein.
Alle regten sich auf, dass es nicht richtig hell wurde. Aber keiner tat etwas und wechselte mal die Lampen aus. Es war auch niemand da, der einen Elektriker bestellt hätte. Man ließ die Dinge einfach auf sich beruhen und schimpfte weiter.
Kersher trat bis an das Treppengeländer heran und warf einen Blick in die Tiefe.
Er entdeckte nichts Fremdes. Nur der verdammte Geruch blieb.
Er schien von unten nach oben zu steigen, was Lou ziemlich durcheinander brachte.
Er hätte wieder zurück in die Wohnung gehen können, doch davor schreckte er zurück. Er wollte es nicht. Er wusste selbst nicht genau, was er wollte, aber er musste etwas tun.
Sein Blick richtete sich auf die zweite Tür auf dieser Etage. Dort befand sich die Wohnung der Witwe Wilson. Die alte Frau wusste eigentlich immer, was im Haus und in dessen näherer Umgebung lief. Sie war die typische Klatschbase. Sicherlich hatte sie auch Jane Collins gesehen, denn sie hing oft genug an ihrem Guckloch, das wusste Kersher.
Er blieb vor der Tür der Witwe stehen und schellte. Im Bett war die alte Wilson um diese Zeit noch nicht. Sie blieb immer bis weit nach Mitternacht auf. Da hockte sie entweder vor der Glotze oder vor dem Fenster, um irgendwas zu entdecken.
Auch jetzt war sie noch auf den Beinen. Recht schnell wurde Kersher geöffnet. Allerdings wurde die Tür nicht weit aufgezogen, sondern nur ein Stück. Dann spannte sich die Kette von innen her straff. Das Gesicht der Frau war im Ausschnitt zu sehen.
»Ach, Sie sind es, Mr. Kersher.«
»Ja, ich.«
»Und was wollen Sie um diese Zeit?«
Mit dieser Frage hatte Lou gerechnet und sich auch schon die entsprechende Antwort
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