1334 - Der Ghoul und die Witwe
Blick hineingeworfen und im Licht der Lampe die bleichen Knochen erkannt. Bei einem normalen Grab wäre das normal gewesen, aber hier ging es nicht um die Normalität. Hier war etwas anderes sehr wichtig. Sie kannte sich mit Ghouls aus. Diese Geschöpfe hausten in der Regel auf alten Friedhöfen, wo sie genügend Nahrung fanden. Sie waren schleimig, sie konnten durch Gänge und Höhlen unter der Erde gleiten, da es durch den Schleim kaum Reibung gab. Deshalb hatten sie oft die Friedhöfe untertunnelt.
Verbindungsgänge von Grab zu Grab, um so schnell wie möglich von einem Ziel zum anderen zu gelangen – so konnte man sich die Heimat dieser Leichenfresser vorstellen.
Das Grab vor ihr konnte so etwas wie ein Einstieg sein!
Da sie den Ghoul oder Zombie in ihrer Umgebung nicht entdeckte, kam ihr etwas anderes in den Sinn, mit dem sie die Wartezeit überbrücken konnte. Es war zwar nicht gerade ein Spaß, aber die große Neugierde ließ sich damit schon befriedigen.
Sie wollte in das Grab hineinklettern und sich dort zunächst umschauen.
Besonders tief war es nicht. Mit einem lockeren Sprung konnte sie schon den Boden erreichen. Der letzte Blick, niemand wollte etwas von ihr, dann stieg Jane in das Grab. Die Öffnung war breit genug, sodass sie nirgendwo anstieß.
Jane Collins tauchte ab. Sie bemühte sich dabei, nicht auf die Knochen zu treten. An der richtigen Stelle setzte sie den Fuß auf und duckte sich. Jetzt war sie von außerhalb nicht mehr zu sehen.
Jemand hätte sich schon über die Öffnung bücken müssen.
Natürlich erlebte sie wieder den ekligen Gestank. Der störte sie nicht besonders, da sie ja wusste, dass sie ihm nicht entwischen konnte, so lange sie sich hier unten befand.
Jane schaltete wieder ihre Lampe ein. Die Knochen waren jetzt nahe. Zwischen den wie abgeleckt wirkenden Gebeinen sah sie die beiden Hälften eines Schädels liegen. Er war in der Mitte einfach auseinandergebrochen worden.
Sie widerstand der Versuchung, die Knochen zu berühren, aber sie wollte wissen, ob sich ihr Verdacht bestätigte. Ghouls waren Meister im Bauen von Tunnels von Grab zu Grab.
Die Detektivin leuchtete die Wände ab. Beim zweiten Versuch hatte sie Glück. Es war die Wand an der rechten Seite. In Kopfhöhe entdeckte sie das Loch.
Ihr Herz schlug plötzlich schneller. Schweiß stand auf ihrer Stirn.
Für sie war es der endgültige Beweis, dass auf diesem Friedhof zumindest ein Ghoul hauste.
Kalte Spinnweben schienen über ihren Rücken zu kriechen. Sie blickte schnell hoch, aber da lauerte niemand auf sie. Noch eine Minute wollte sie sich Zeit nehmen.
Das Loch war nicht sehr groß. Sie selbst hätte kaum hineingepasst. Bei einem Ghoul war das anders. Dank seines Schleims war er sehr beweglich. Er drehte sich wie eine Schraube in die Gänge hinein. Jane musste sich tief bücken, dann strahlte die lange Lichtlanze in das Innere und erhellte den Tunnel.
Es gab irgendwo vor ihr ein Ende, aber das war normal. Es sah aus wie eine Wand und nicht wie die Fratze einer Gestalt. Hier unten wartete also keiner.
Die Detektivin schob Lampe, Hand und Arm so tief wie möglich in den Tunnel hinein. Es war gut, denn so erhielt sie Gewissheit.
Der Tunnel knickte nach links ab.
Er führte also weiter und dabei in eine andere Richtung unter dem Friedhof hindurch. Wenn sie gedanklich den neuen Weg verfolgte und sich dabei vorstellte, dass es keine weiteren Abzweigungen mehr gab, dann war es durchaus möglich, dass der Gang den Friedhof hinter sich ließ, unter der Straße weiterführte und auf der anderen Seite irgendwie auslief. Möglicherweise im Keller des Hauses, in dem Lou Kersher wohnte. Natürlich nicht allein, sondern zusammen mit anderen Mietern.
Diese Überlegungen taten Jane nicht eben gut. Wieder spannte sich die Haut auf ihrem Rücken. Jetzt konnte es sogar durchaus sein, dass sich Kersher in Gefahr befand.
Jane zog ihren Arm wieder zurück. Bis John Sinclair eintraf, würde Zeit verstreichen, die Jane nicht nur mit Warten ausfüllen wollte.
Die Vorsicht ließ sie nicht außer Acht, als sie das Grab verließ. Sie schaute sich noch von unten her die Ränder an und erkannte dort keine Gefahr.
Jane kletterte wieder hoch. Die Luft wurde etwas besser. Als sie einige Schritte vom Grab her zur Seite ging, konnte sie wieder tiefer durchatmen.
Lou Kersher hatte sie nicht vergessen. Sie wollte ihn warnen und zugleich so mit ihm sprechen, dass ihm nicht auffiel, in welch einer Gefahr er sich möglicherweise
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