1334 - Der Ghoul und die Witwe
Welcher normale Mensch trieb sich in der Nacht schon auf dem Friedhof herum?
Bevor Jane die Person sah, hörte sie noch deren trockenes Hüsteln. Zwei Sekunden später schob er sich in ihr Blickfeld.
Es war kein Ghoul.
Vor ihr stand ein hagerer Mann, der auf seinem Kopf eine flache Schiebermütze trug.
Beide schauten sich an.
Jane fand als Erste die Sprache zurück. »Wer sind Sie?«, fragte sie leise.
»Ich bin der Totengräber«, antwortete der Mann mit hohl klingender Stimme…
***
Lou Kersher stieß pfeifend den Atem aus, als er den Hörer aufgelegt hatte. Er wusste nicht, ob er beruhigt sein sollte oder nicht. Jedenfalls war sein Verdacht bestätigt worden. Darüber konnte er sich schon mal freuen.
Wie ging es weiter?
Er dachte daran, dass Wissen Macht ist. In diesem Fall jedoch fehlte ihm beides. Das Wissen und die Macht. Da hatte ihm auch Jane Collins nicht helfen können. Sie wusste nur, dass es einen Besucher auf dem Friedhof gab, den es nicht hätte geben sollen. Der nicht zu den Menschen gehörte, sondern zu Wesen, die auf Friedhöfen lebten.
Lebende Leichen!
Nur daran konnte er denken, und wieder fragte er sich, ob es sie tatsächlich gab.
Waren die Gestalten, die er über den Friedhof hatte schleichen sehen, lebende Leichen?
Es konnte stimmen. Es musste nicht so sein. Andererseits hatte die Detektivin sehr überzeugt geklungen. Das wäre nicht der Fall gewesen, wenn sie keinen entdeckt hätte.
Es gab also etwas, das nicht okay war. Was es denn genau war, würde Jane Collins sicherlich noch herausfinden.
Er trat wieder ans Fenster. Eine Lampe brannte im Raum. Sie störte durch ihr Licht seinen Blick nach draußen nicht weiter, auch wenn sich ein schwacher Schein im Fenster abmalte.
Kersher schaute über die Mauer hinweg auf das Gelände. Er nahm wieder sein Fernglas zu Hilfe. Damit holte er das Gewünschte zwar näher heran, sehr deutlich wurde es allerdings nicht. Um ein Nachtsichtgerät zu kaufen, fehlte ihm das Geld.
Die Bäume, die höher wuchsen als die Büsche. Jeden Einzelnen kannte er.
Sogar Namen hätte er ihnen geben können, aber auf dieses Spiel ließ er sich nicht ein.
Wo steckte Jane Collins?
Kersher gab nicht auf. Er suchte weiterhin das Gelände ab, um herauszufinden, ob sich dort etwas bewegte. Er konnte sich nicht vorstellen, dass Jane Collins einfach nur auf einem Fleck stehen blieb und darauf wartete, dass etwas passierte.
Plötzlich lächelte er. Er hatte sie gesehen. Ja, Jane Collins war aufgetaucht.
Irgendwie beruhigte ihn das. Er ließ das Fernglas sinken. Er vertraute dieser Frau, die so selbstsicher war und keine Angst zeigte. Da hatte er sich wirklich die richtige Hilfe ausgesucht. Andere hätten längst das Weite gesucht, diese Jane Collins aber hatte Mut und wollte herausfinden, was passiert war.
Wieder schaute er durch das Glas.
Jane Collins war verschwunden.
Er stieß einen Fluch aus, weil er sich über sich selbst ärgerte. Es war sein Fehler gewesen. Er hätte länger hinschauen sollen. Nun war es zu spät.
Weshalb er in eine gewisse Hektik verfiel, wusste er auch nicht.
Kersher überkam plötzlich ein ungutes Gefühl. Er konnte sich auch vorstellen, dass etwas Schlimmes passiert war und dass er ausgerechnet diese Dinge verpasst hatte.
Noch passierte nichts. Der alte Friedhof blieb unter der dunklen Decke liegen. Der Wind strich wie immer über ihn hinweg, als wollte er die Gräber mit den Toten darin streicheln.
Kersher ließ das Glas sinken. Es war schwer geworden. Beinahe wäre es ihm noch aus der Hand gerutscht. Er schaute jetzt normal durch die Scheibe, ein letztes Mal, aber ohne Fernglas war das nichts. Dann drehte er sich vom Fenster weg. Das Kratzen in der trockenen Kehle machte ihm klar, dass er etwas dagegen unternehmen musste.
Ein Schluck Wasser wäre sicherlich nicht das Schlechteste gewesen. Aber Gin tat es auch. Er brauchte den Alkohol jetzt. Die Flasche stand noch in der Nähe.
Kersher trank einen tiefen Schluck. Sehr sachte stellte er die Flasche wieder zurück und machte sich darüber Gedanken, was wohl auf dem Friedhof vorgefallen war. Er hatte ja die Gestalten gesehen, aber er wusste nicht, wie er sie einschätzen sollte. Waren das wirklich lebende Leichen, wie man sie in den alten Horrorstreifen sehen konnte?
Eigentlich gab es so etwas nur in der Fantasie der Filmemacher und Autoren. Aber wer wusste denn schon, was die Wirklichkeit alles bereithielt? Die Menschen hatten es geschafft, viele Rätsel in der Welt zu lösen,
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