1344 - Fluchtburg der Engel
saßen noch zwei Stunden zusammen, tranken, sprachen von alten Zeiten und ich fühlte mich wie in einer Familie. Aber so war es schon immer gewesen. Außerdem war Bill Conolly mein ältester Freund. Gemeinsam hatten wir wirklich schon so manches Höllenfeuer gelöscht und auch zahlreiche Gefahren überstanden.
Irgendwann hatten wir die richtige Bettschwere erreicht, wobei Sheila uns schon vorher verlassen hatte. Bill und ich hatten uns noch eine Flasche vorgenommen und es auch geschafft, sie zu leeren.
Ich war davon überzeugt gewesen, sofort einzuschlafen. Ein Irrtum, wie sich sehr schnell herausstellte, denn ich bekam meine Augen einfach nicht zu.
Alles Mögliche ging mir durch den Kopf. Die Vergangenheit drang immer wieder hoch. Zahlreiche Gestalten, gegen die ich gekämpft hatte, tauchten wieder auf, und ich erkannte dazwischen auch das Gesicht der verstorbenen Horror-Oma Sarah Goldwyn, deren Tod ich noch immer nicht richtig überwunden hatte.
Und über allem schwebte der Schwarze Tod als Dirigent mit blutiger Sensenklinge…
***
Wilma Dorn stand im Zimmer und hielt den Telefonhörer länger als gewöhnlich in der Hand. Sie schaute dabei auf das Bild an der Wand, das ein seltsames Motiv zeigte. Eigentlich war nichts zu sehen, weil sich die Farben Grau und Blau mischten. Doch wer genauer hinschaute, der erkannte in der Mitte des Bildes eine Gestalt, die fast mit dem Hintergrund verschwamm und wie ein heller Umriss wirkte, der doch menschliche Maße besaß.
»Was hast du?«, meldete sich Linda, ihre Schwester, aus dem Hintergrund. Sie saß im Sessel und ließ das Buch sinken, in dem sie bisher gelesen hatte.
Wilma drehte sich nicht um. Sie legte nur den Hörer auf und sprach erst danach. »Es geht mir um den Anruf.«
»Na und?«
Ein knappes Lachen leitete die Antwort ein. »Jemand wollte ein Zimmer bestellen.«
»Das ist normal«, erklärte Linda Dorn.
»Um diese Zeit?«
»Was willst du damit sagen?«
Wilma drehte sich um. »Ich halte den Anruf für eine Finte. Für eine Kontrolle.«
»Wie kommst du darauf?«
»Das sagt mir mein Gefühl, Schwester.«
Linda schwieg. Sie wartete, bis Wilma ebenfalls ihren Platz eingenommen hatte. Beide Frauen saßen sich gegenüber und sprachen zunächst nichts. Vor ihnen standen die geleerten Teetassen. Die Kannen hatte sie in der Mitte des Tisches abgestellt.
Die Schwestern zählten nicht mehr zu den jüngsten Menschen.
Wilma Dorn war 55 und blond. Die Haare, die glatt auf ihrem Kopf lagen, hatte sie nicht gefärbt. In der Mitte war die aschgraue Pracht gescheitelt. Sie hatte eigentlich schon immer so ausgesehen von der Frisur her, nur war sie eben im Gesicht älter geworden. Es passte zu dem relativ kleinen Kopf mit den runden Wangen, die von einer Schicht rosigem Puder bedeckt waren. Ein kleiner Mund, herzförmig geschnitten, darunter ein ebenfalls kleines Kinn, das allerdings ein wenig eckig erschien. Ihre Augen waren dunkel, und die Falten in der Haut hielten sich in Grenzen.
»Wer sollte uns denn kontrollieren?«, fragte Linda leise.
»Ich weiß es nicht.«
»Dann hast du die Stimme nicht erkannt?«
»So ist es. Ich kann dir nur sagen, dass ich mit einem Mann gesprochen habe.«
»Dem du nicht traust?«
»So ist es.«
»Und warum nicht?«
»Das kann ich dir nicht sagen. Es war oder es ist einfach nur mein Gefühl, das mir diese Warnung gegeben hat. Der Anrufer war freundlich neutral, da stimmt alles, und doch ist bei mir das Misstrauen hochgekeimt. Du verstehst?«
»Ja, ja, schon.« Linda dachte nach. Sie war drei Jahre älter als ihre Schwester. Natürlich wäre ihr Haar auch grau gewesen, doch das hatte sie dunkel einfärben lassen. Alle vier Wochen fuhr sie zu einem Friseur, der für eine gleichbleibende Tönung sorgte.
Vom Gesicht her glich sie ihrer Schwester nicht. Man konnte Linda als grober bezeichnen. Sie hätte auch gut als Mann durchgehen können. Da war nichts Weibliches in den Zügen. Der breite Mund, die kräftige Nase und die ebenfalls breite Stirn mit den Augenbrauen, die sie ebenfalls dunkel nachfärben ließ. Außerdem war Linda viel größer als ihre Schwester. Frauentypen wie sie tauchten oft in gezeichneten Witzen auf.
»Warum sagst du nichts mehr?«
»Ich musste erst nachdenken.«
»Aha.«
Linda räusperte sich. »Um noch mal auf dein Misstrauen zurückzukommen, Schwester, kann dies mit Manon zusammenhängen, die uns sitzen gelassen hat, obwohl sie versprach, am Abend zu erscheinen?«
»Das wäre möglich.«
»Kennst du
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