1344 - Fluchtburg der Engel
Lacre hatte ihr große Freude bereitet. Die noch sehr junge Frau und sie schwammen auf der gleichen Wellenlänge. Die Schwestern kannten Manons Geheimnis, wobei Linda noch immer ein wenig skeptisch war. Da hatte sie sich seit ihrer Kindheit nicht geändert. Sie war immer die Praktischere der Schwestern gewesen und sah die Welt mit nüchternen Augen an.
Verheiratet waren beide nie gewesen. Keine von ihnen bereute dies, denn sie hatten eine Aufgabe gefunden, in der sie voll und ganz aufgingen, was auch gut war.
Diese Nacht, die so aussah wie jede andere auch, war für Wilma Dorn trotzdem eine ganz besondere. Beweise dafür hatte sie nicht.
Sie konnte es nur fühlen, und immer wenn sie daran dachte, spürte sie das Kribbeln auf ihrem Rücken. So verhielt es sich auch jetzt, als sie auf die Hoteltür zuging.
Es war ein Rechteck, dessen Fläche sich in mehrere kleine Fenster unterteilte. Butzenscheiben, deren bräunliche Farbe durch das Licht einen Glanz wie Bernstein bekommen hatten, bildeten den Mittelpunkt der alten Tür. Sie war noch nicht abgeschlossen. Das würde erst nach Wilmas Rundgang geschehen.
Sie zog die Tür auf. Die Luft draußen war kühl, aber nicht eisig.
Für die Jahreszeit war sie eigentlich schon zu warm, aber Wilma holte sich schon das große Umhängetuch vom Haken, das sie über ihre Schultern schwang.
Jetzt würde ihr auch der Wind nichts mehr ausmachen. Es war ein Irrtum. Wind gab es so gut wie nicht. Dafür war die Luft sehr feucht, auch wenn es nicht regnete. Dunst hatte sich gebildet und schwebte als geisterhaftes Wolkenpaket über den Boden. Von einem dichten Nebel konnte man noch nicht sprechen. Möglicherweise würde sich der in den Morgenstunden bilden.
Über den alten Gitterrost als Fußabtreter ging die Frau hinweg und erreichte den Weg, der als Zufahrt zum Hotel diente. Er war mit alten Steinen belegt. Man musste schon genau hinschauen, um sie zu sehen, denn im Laufe der Zeit war das Pflaster von zahlreichen Pflanzen überwuchert worden, die eine dunkelgrüne Schicht bildeten, die jetzt recht braun aussah. An verschiedenen Stellen hatte sich der Untergrund gehoben oder gesenkt. Man musste schon Acht geben, um nicht zu stolpern. Der Weg führte an einer Buschwand vorbei und mündete in eine schmale Straße, die deshalb wenig befahren war, weil sie nur den Einheimischen bekannt war. So lag das Hotel recht abgeschieden in einer irgendwie vergessenen Welt, der man die Nähe zu London kaum zugetraut hätte.
Wilma ging den Weg nicht, sondern wandte sich nach rechts, um parallel zum Haus zu schreiten. Das Licht verlor sich hinter ihr. Die Fenster, an denen sie vorbeiging, waren dunkel, und sie fühlte sich von leeren, unheimlichen Augenhöhlen beobachtet.
Wilma Dorn hatte das andere Ende des Hauses noch nicht erreicht, als sie stehen blieb.
Sie drehte dem Haus den Rücken zu und legte den Kopf zurück, damit sie in die Höhe schauen konnte. Abgesehen von einem still vor sich hinwabernden Dunst war nichts zu sehen. Auch nichts zu hören, denn niemand bewegte sich in der Nähe.
Bisher hatte sie die Augen offen gehalten. Das änderte Wilma jetzt, denn sie schloss die Augen, weil sie sich so besser konzentrieren konnte. Das war wichtig, wenn sie die Botschaften der anderen Seite empfangen wollte.
Dabei ging es ihr nicht um Außerirdische, deren Gedanken sie auffangen wollte. Sie bemühte sich um den Kontakt mit der Welt der Engel und wollte dort bis an die Grenze heran, um später sogar darüber hinwegzukommen.
Sie wussten Bescheid! Sie konnten sich in der Fluchtburg sicher fühlen. Ausruhen, bevor sie sich anderen Aufgaben zuwandten.
Wäre Manon bei ihr gewesen, dann hätte es kaum Probleme gegeben, denn sie war in der Lage, mehr über die Engel zu sagen, weil sie von einem geleitet wurde, der sie vor langer Zeit einmal vor dem Scheiterhaufen gerettet hatte und nach ihrer Wiedergeburt ebenfalls den Schutz der jungen Frau übernommen hatte.
Die Schwestern wussten alles aus den Erzählungen der Manon Lacre und glaubten ihr. Nur versand Wilma nicht, warum die junge Frau sie versetzt hatte. Freiwillig hatte sie das bestimmt nicht getan.
Da musste ihr etwas Schwerwiegendes dazwischengekommen sein, und es war sogar das Schlimmste zu befürchten.
Die Umgebung gab ihr keine Antwort. Sie blieb stumm. Träge umwallte sie der Dunst, aber die Frau gab nicht auf. Wer sich mit Engeln beschäftigte, der musste Geduld haben und sehr zäh sein, sonst kam er nicht in die Nähe dieser scheuen
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