1352 - Beute für den Sensenmann
Winter konnte man alles vergessen, abgesehen von ein paar ganz wenigen Ausnahmen.
Dieser Abend war wieder einmal einer gewesen, den sie aus dem Kalender streichen würde. Zwei Gäste hatten gegessen, und die vier anderen, die in den letzten Stunden den Weg in das Lokal gefunden hatten, waren nicht der Rede wert gewesen.
Deshalb hatte Rose Dunn zu einer Radikaltour gegriffen. Ob sie drei oder vier Biere mehr verkaufte, das machte den Kohl nicht fett, deshalb hatte sie die Sperrstunde vorverlegt und den Gästen klar gemacht, dass sie müde wäre.
Ohne zu murren waren sie gegangen.
Für Rose begann die Zeit des Aufräumens. Viel war für sie nicht zu tun. Sie schaltete die alte Glotze ein und sah, das wieder mal eines dieser Gewinnspiele lief, was ihr langsam auf den Wecker ging, weil es einfach zu viele davon gab.
So schaute sie nicht hin, sondern hörte mit einem Ohr den Quizfragen zu, die sie aber trotzdem nicht nachvollzog. Sie wienerte noch das alte Kupfer der Theke und dachte daran, sich ebenfalls etwas zu gönnen. Zum einen eine Zigarette, zum anderen einen Gin!
Die Flasche stand bereit. Das Glas ebenfalls, und das kippte sie fast voll. Danach zündete sie sich dem Glimmstängel an, nahm einen tiefen Zug und blies den Rauch gelassen gegen die Decke. Sie hatte sich auf einen Hocker vor der Theke gesetzt. Hin und wieder warf sie einen Blick auf die Glotze. Das Programm gefiel ihr nicht. Da die Fernbedienung zu weit weg lag und sie keine Lust hatte, sie zu holen, ließ sie das Programm laufen.
Die absolute Stille mochte sie auch nicht. Action war ihr lieber.
Und die bekam sie noch in dieser Nacht.
Mit einer heftigen Bewegung drehte sie den Kopf nach links, weil sie ein Geräusch draußen an der Tür gehört hatte. Ihr fiel ein, dass sie nicht abgeschlossen hatte. Es kam immer wieder vor, dass Gäste auch jenseits der Sperrstunde versuchten, noch einen Drink zu bekommen. Genau das hasste sie. Ausnahmen wollte sie nicht machen.
Doch es war kein Gast, der Einlass begehrte. Jemand stieß die Tür von außen auf, bevor Rose reagieren konnte. Eine Gestalt taumelte in das Lokal.
Rose glaubte zunächst, sich geirrt zu haben. Was sie da sah, konnte sie nicht glauben. Eine völlig erschöpfte Lilian Dexter betrat mit über den Boden schleifenden Füßen die Gaststätte und war froh, sich auf den ersten Stuhl in der Nähe der Tür fallen lassen zu können.
Rose, von der Figur ziemlich üppig, zeigte, wie schnell sie sich bewegen konnte. Dass mit ihrem Gast etwas nicht stimmte, lag auf der Hand. Sie lief auf die offene Tür zu und warf einen Blick auf die Straße. Dort tat sich nichts. Keiner kam mehr. Lilian war allein.
Noch einmal blickte sie nach rechts und links, aber nur die Dunkelheit lag wie ein Schleier über dem Ort.
Sie drückte die Tür wieder zu. Aus einer Eingebung heraus schloss sie auch ab und drehte sich dann um.
Lilian saß weiterhin auf ihrem Platz. Sie hielt die Beine ausgestreckt. Die Hände hatte sie gegen ihr Gesicht gepresst. Sie weinte, und dieses Weinen – schon mehr ein Schluchzen – schüttelte ihren Körper.
Rose wusste nicht, was mit Ihrem Gast passiert war. Sie wunderte sich nur darüber, dass Lilian ohne ihren Freund Orry gekommen war, und ging davon aus, dass etwas nicht stimmte.
Aber sie wusste sich zu helfen. In Situationen wie dieser Tat ein Whisky immer wieder gut.
Sie schenkte mehr als einen Doppelten ein und ging damit zu Lilian Dexter.
»He, schau mal her!«
Lilian hatte die Stimme gehört. Sie reagierte noch nicht, und musste erst geschüttelt werden, bevor sie aus ihrer Starre erwachte und die Hände sinken ließ.
Rose Dunn erschrak, als sie in das verquollene Gesicht blickte. Lilian sah so fremd aus. Auch die Haut war aufgequollen und hatte einen bläulichen Schimmer bekommen, abgesehen von den roten Stellen.
Die Wirtstochter sagte nichts. Sie hielt Lilian das Glas hin. »Bitte, trink.«
Lilian schaute Rose mit einem langen Blick an. Dann streckte sie beide Hände vor, umfasste das Glas und setzte es an ihre Lippen.
Sie sagte dabei nichts, sie zitterte nur, und das auch beim Trinken, sodass einige Tropfen an ihrem Kinn entlangrannen.
Das Glas leerte sie nicht ganz. Sie stellte es zur Seite, als sich noch ein Rest darin befand.
Rose hatte sich so neben sie gesetzt, dass die Lilian anschauen konnte. Und sie hatte sich auch ihre Gedanken über den Zustand der Frau gemacht. Lilian Dexter war allein gekommen, ohne Orry.
Daraus folgerte sie, dass mit Orry
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