1356 - Am Abgrund des Lebens
Akkeren erst verkraften, und er fragte sich auch jetzt, ob er ihm trauen konnte.
Wie ein Kind, das sein Spielzeug in der Hand hält, so winkte der Pfleger mit dem Schlüssel. »Ich habe die Macht, mein Freund. Daran solltest du denken, und dich auch daran halten.«
Der Angesprochene überlegte noch einige Sekunden. Ihm schoss durch den Kopf, dass ihm eigentlich nichts passieren konnte, und so stand er auf. Es war gut, dass er so reagierte, denn wäre er über den Boden gekrochen, hätten die Aufpasser an den Monitoren große Augen bekommen und hätten sofort nachgeschaut, was passiert war.
Vincent van Akkeren ging seinen normalen Weg, den er immer nahm, wenn er zur Toilette wollte.
Boris Nolan zählte genau die Schritte. Er wusste nämlich, wann van Akkeren der Kamera entschleichen würde. Wenn das passiert war, hatte er freie Bahn. Er konnte es kaum noch aushalten. Die Gier tobte in ihm.
Er hielt den Mund geschlossen, konzentrierte sich auf van Akkerens Gesicht. Dem Ausdruck nach zu schließen, schien er noch immer nicht ganz einverstanden zu sein, weil der misstrauische Ausdruck in seinen Augen geblieben war.
Vor ihm blieb er stehen.
»Und jetzt?«, fragte van Akkeren leise.
Boris Nolan gab die Antwort auf seine Weise. Und sie bewies, wie weit er sich von seinem ehemaligen Dasein entfernt hatte. Er gab keine akustische Antwort, er handelte.
Ein blitzschneller Griff zum linken Bein des Mannes, der harte Ruck, das Kippen, der Fall und der Aufprall.
All das ging über in eine fließende Bewegung. Nur den Aufprall federte Nolan ab, weil er nachgegriffen hatte. Er wollte keinen Bewusstlosen vor sich liegen haben, wenn er trank. So war van Akkeren abgefangen worden und in sich zusammengesackt.
Er lag auf dem Rücken. Der Ausdruck in seinem Gesicht machte klar, dass er nicht so recht wusste, was da überhaupt abgelaufen war. Er würde sich erst zurechtfinden müssen. Doch das ließ der Vampir nicht zu. Er drückte seine breit Hand, schon mehr eine Pranke, gegen die Kehle des Insassen.
Der Grusel-Star röchelte. Er strampelte. Er wollte auch um sich schlagen, aber er bekam seine Hände nicht mehr hoch. Der Aufprall musste ihn paralysiert haben.
Genau das hatte Nolan gewollt. Er hockte neben der Gestalt, hielt die Kehle umklammert und schaute auf van Akkeren nieder. Dabei wusste er nicht, was in seinem Kopf vorging. Es waren Gedanken oder vielleicht Gedankenfetzen, alles wurde beherrscht von der wahnsinnigen Gier nach Blut.
Der Hals lag noch nicht frei. Nach wie vor raubte Nolan dem Liegenden die Luft. Nun musste er an den Hals herankommen, um die Zähne in die dünne Haut zu schlagen.
Zwei Sekunden ließ er sich noch Zeit, wobei ihn das Röcheln nicht kümmerte. Er wollte einen Blick in die Augen seines Opfers werfen und dort herausfinden, was es wohl fühlte.
Nichts sah er, was nicht normal gewesen wäre. Der Mann hatte Angst. Er las in den Augen auch ein gewisses Unverständnis, und dann kam noch der Schrecken hinzu, als Boris Nolan sein Mund öffnete und seine beiden Zähne zeigt.
Van Akkeren begriff. Der Ausdruck in seinen Augen wechselte. Er wusste wer sein Gegner war, und er schien es anscheinend nicht mal schlimm zu finden.
Kannte er Vampire?
Boris Nolan machte sich keinerlei Gedanken darüber. Für ihn zählte einzig und allein das Blut.
Er löste die Hand von der Kehle. Das Röcheln des Mannes verstärkte sich. Er verdrehte seine Augen, aber er kam nicht mehr zu einer Gegenwehr.
Nolan war schneller.
Er zuckte nach unten. Er riss seinen Mund auf. Er bewegte sich glatt und sicher, und er machte den Eindruck eines Mannes, für den dies alles schon Routine war.
Sein Kopf schoss nach unten. Er hatte den Kopf seines Opfers zur Seite gedreht. So lag der Hals perfekt frei, und erwartete praktisch den Biss.
Genau das tat Nolan!
Es war kein Beißen, es glich mehr einem Rammen, als er die Zähne durch die Haut des Halses schlug. Dabei hatte er so hart zugebissen, dass kaum ein Widerstand zu spüren gewesen war.
Er kam mühelos durch!
Von seinem Instinkt getrieben, hatte er zudem die wichtige Ader getroffen, aus der das Blut in seinen offenen Mund sprudelte.
Zum ersten Mal spürte er die neue Flüssigkeit, die von nun an sehr wichtig für ihn werden würde. Er nahm ihren Geschmack wahr. Er berauschte sich an der Süße des Bluts, das noch immer sprudelte wie eine Quelle, die nie versiegen wollte.
Die Umgebung war für den Wiedergänger nicht mehr existent. Er hatte sich sein Opfer zurechtgelegt.
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