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auf die Stadt zugaloppierten. «Irgendeiner von den verdammten Adeligen», murrte der Wächter. Einer der Reiter entfaltete ein Banner, um zu zeigen, dass sie in ehrbarer Absicht kamen. Die Flagge zeigte ein grünes Pferd auf weißem Feld, wenn der Reiter an der Spitze auch einen schwarzen Wappenrock mit einer weißen Rose trug. Alle acht Reiter trugen Rüstung und Waffen. «Macht ihnen Platz!», rief der Wächter den Fuhrleuten zu.
«Wenn ihr sie reinlasst», bat ein Fuhrmann mit einer Ladung Brennholz, «warum dann nicht auch uns?»
«Weil ihr Abschaum seid und sie nicht», sagte der Wächter, dann verbeugte er sich vor den Reitern, die hufeklappernd durch den Torbogen kamen. «Ich habe hier zu tun», sagte der Anführer der Reiter zu den Wachmännern, die keine weitere Erklärung verlangten, sondern nur dröhnend die Torflügel zuschwingen und den Sperrbalken in die Halterungen fallen ließen. «Meinen Dank», sagte der Anführer der Reiter und ritt weiter in die Stadt.
Roland de Verrec war nach Montpellier gekommen.
Fünf
D ie Aussage lautet», Doktor Lucius bellte laut genug, dass seine Worte auch noch von den Fischen im Mittelmeer sechs Meilen südlich von Montpellier gehört werden konnten, «dass ein Kind, das ungetauft stirbt, dadurch zu endlosen Qualen in der Hölle verurteilt ist, zum ewigen Feuer der Verdammnis und zur Scheidung von Gott für alle Zeit, mit all dem Leid, dem Schmerz, der Reue, dem Bedauern und der Trübsal, die mit diesem Schicksal verbunden sind. Meine Frage: Trifft diese Aussage zu?»
Niemand antwortete.
Doktor Lucius, der einen tintenfleckigen weißen Habit der Dominikaner trug, funkelte seine eingeschüchterten Studenten an. Man hatte Thomas gesagt, der Dominikaner sei der klügste Mann an der gesamten Universität von Montpellier, und deshalb war er mit Bruder Michael in den Vorlesungssaal des Doktors gekommen, der eher ein durch die Überdachung eines engen Kreuzgangs im Kloster Saint Simeon entstandener notdürftiger Raum war. Das gute Wetter war über Nacht von niedrigen, düsteren Wolken abgelöst worden, aus denen der Regen auf die schlecht ausgerichteten Ziegel des Vorlesungssaals fiel und durch die Lücken heruntertropfte. Doktor Lucius saß auf einem Podest hinter einem Pult, und ihm gegenüber standen drei Bankreihen, auf denen etwa zwanzig lustlos wirkende Studenten in schwarzen oder dunkelblauen Gewändern lümmelten.
Doktor Lucius strich sich über den Bart. Es war ein langer Bart, der bis zu dem zerfransten Strick reichte, mit dem er seinen Habit gegürtet hatte. «Sind wir stumpfsinnig?», wollte er von seinen Studenten wissen. «Schlafen wir? Haben wir gestern Abend zu viel Traubenwein getrunken? Einige von euch, Gott steh Seiner heiligen Kirche bei, werden ein Priesteramt übernehmen. Ihr werdet für eine Gemeinde sorgen müssen, und darunter werden Frauen sein, deren Säuglinge sterben, bevor sie das Sakrament der Taufe empfangen haben. Die Mutter, die bei euch tränenüberströmt um Beistand nachsucht, wird fragen, ob ihr Kind in die Gemeinschaft der Heiligen aufgenommen worden ist, und wie lautet dann eure Antwort?» Doktor Lucius wartete, doch es kam keine Reaktion. «Oh, bei Gott», knurrte der Doktor, «einer von euch muss doch eine Antwort geben können.»
«Ja», kam es von einem jungen Mann, unter dessen schmuddeliger Studentenmütze langes, schwarzes Haar heraushing, das sein halbes Gesicht verdeckte.
«Ah! Magister Keane ist wach!», rief Doktor Lucius. «Er ist nicht grundlos den ganzen Weg von Irland hierhergekommen, Gott sei dafür gedankt. Warum, Magister Keane, werdet Ihr der trauernden Mutter sagen, dass ihr totes Kind im Paradies ist?»
«Weil sie, wenn ich ihr sage, dass es in der Hölle ist, anfangen wird zu klagen und zu heulen und es kaum etwas Schlimmeres gibt als eine jammernde Frau. Am besten wird man sie los, indem man der armen Mutter sagt, was sie hören will.»
Doktor Lucius’ Mundwinkel zuckten, möglicherweise vor Belustigung. «Also kümmert Euch die Wahrheit der Aussage nicht, Magister Keane, sondern nur, wie Ihr Euch die Wehklagen einer Frau ersparen könnt? Ihr glaubt also nicht, dass es die Pflicht eines Priesters ist, die Frau zu trösten?»
«Indem ich dem bedauernswerten Weib sage, dass ihr Säugling in die Hölle gefahren ist? Himmel, nein! Und wenn sie hübsch ist, würde ich sie ganz bestimmt trösten wollen.»
«Eure Nächstenliebe kennt keine Grenzen», sagte Doktor Lucius säuerlich, «aber kehren wir zu der
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