136 - Zigeunerspuk
streckte den Arm aus, und die Schlange kroch über den Arm auf Schulter und Oberkörper der Zigeunerin.
Matteo berichtete abgehackt, was es mit dem Fremden auf sich hatte.
„Kannst du ihn gemeinsam mit Lucia ins Lager schleifen?" fragte Raffael. „Ich trage Coco."
„Ich will's versuchen", ächzte Matteo.
Raffael hob Coco vom Boden hoch und trug sie auf seinen Armen von der Lichtung. Immer wieder sah er sich mißtrauisch um. Er befürchtete einen Angriff des unheimlichen Gegners. Aber nichts geschah. Matteo und Lucia hatten den Gefesselten gepackt und zerrten ihn mit sich hinter dem Sippenoberhaupt her.
„Wo steckt ihr eigentlich?" empfing Louretta sie. „Matteo, dein Auftritt…"
„Still, Weib", fuhr Raffael sie an. „Anatol soll seine Nummer für heute absagen. Meine findet später statt. Stellt das Programm auf den Kopf."
Da erst bemerkte Louretta so richtig, was ihr Göttergatte und ihre Kinder als Marschgepäck mitschleppten. „Gütiger Gott! Was ist passiert?"
„Frag nicht, sondern geh zu Anatol, oder es setzt was!" giftete Raffael. Louretta machte kehrt und hastete davon.
Im Wohnwagen begann Raffael, Coco ins Bewußtsein zurückzuholen. Es dauerte einige Zeit, bis es ihm gelang. Inzwischen war der Gefesselte längst wieder von selbst erwacht. Er brütete stumm vor sich hin und reagierte auf keine Frage.
Coco öffnete die Augen.
„Du bist in Sicherheit", sagte Raffael. „Was ist geschehen?"
„Laß mich", brachte Coco mühsam hervor. Sie fühlte sich unendlich schwach. „Mein Arm…"
„Den hat Lucia verarztet. Um Matteo kümmert sie sich soeben. Er hat auch Schwierigkeiten mit seinem Arm."
„Die Bestie", flüsterte Coco. „Es gibt sie, und Gerard Despense ist tot. Ein anderer hat seine Gestalt angenommen."
Dann fielen ihr die Lider wieder zu.
Raffael Amalfi preßte die Lippen zusammen. Er mußte erst einmal verarbeiten, was er da hörte. Kaltes Grauen beschlich ihn. Wenn selbst Coco mit dem Unheimlichen nicht fertig wurde - wer dann?
Und Dorian Hunter war weit…
Unweit des Kampfplatzes veränderte sich ein unglaubliches Wesen. Es nahm eine Gestalt an, die ihm größere Beweglichkeit verlieh und die entschieden unauffälliger war. Die Gestalt eines Mannes. Er nahm die hier deponierten Kleidungsstücke wieder an sich und streifte sie über seinen Körper. Noch immer hatte er damit zu tun, sein bestienhaftes Wahrnehmen umzustellen. In menschlicher Gestalt konnte er Blutwärme nicht mehr riechen und Herzschlag nicht mehr spüren.
Dabei war er auch kein Mensch. Er war etwas ganz anderes, etwas, für das es keine Worte gab.
Er erlaubte sich ein Grinsen, als er ausspie, was er bislang zwischen den Zähnen getragen hatte. Ein Stück Stoff aus der Bluse von Coco Zamis, eine Haarsträhne. An dem Stoff klebte ein Tropfen Blut. Mehr brauchte er nicht. Es war ihm zwar nicht gelungen, die abtrünnige Hexe zu töten, aber was er errungen hatte, reichte.
Er hatte fliehen müssen. Ein paar Augenblicke später, und die Hexe hätte ihn mit der Gemme geschwächt. Dann hätte sie ihn besiegen können. Zudem waren weitere Menschen aufgetaucht. Sie zu töten, hätte ihm kein Problem geschaffen. Aber da war diese Giftschlange.
Hauptsächlich vor ihr war er dann geflohen.
Aber es machte nichts. Er hatte dennoch erreicht, was er erreichen wollte. Um Georges Charieux machte er sich keine Gedanken. Der hatte seine Rolle gespielt. Daß sein Versuch, Coco Zamis zu erschießen, fehlschlug, war vorauszusehen gewesen. So leicht war eine Zamis nicht zu töten. Aber er war lange genug Ablenkungsfaktor gewesen.
Was jetzt aus Charieux wurde, war dem Wesen, das sich jetzt Gerard Despense nannte, gleichgültig. Despense machte sich auf den Rückweg in die Stadt. Er brauchte jetzt nur noch darauf zu warten, daß der Meister sich wieder mit ihm in Verbindung setzte. Dann würde man weitersehen.
Daß dieser Kontakt möglicherweise auch Despenses Existenz beendete, berührte ihn nicht. Der Begriff „Leben" hatte für ihn selbst keine Bedeutung.
Nach zwei Stunden erwachte Coco wieder. Draußen war es relativ ruhig geworden. Die Schau war vorüber, die Zuschauer wieder fort. Die Zigeuner waren wieder unter sich.
Coco erhob sich. Sie befühlte den Verband an ihrem linken Arm. Sie spürte keinen Schmerz mehr. Coco hatte sich die Verletzung vorher nicht genau ansehen können, aber sie hoffte, daß die Krallen der Bestie nicht zu tief ins Fleisch gedrungen waren. In ein paar Tagen würde die Wunde verheilt sein.
Weitere Kostenlose Bücher