136 - Zigeunerspuk
Sie konnte nicht schnell genug ausweichen. Ein glühender Schmerz zog sich über ihren linken Arm. Sie drehte sich und versetzte dem Ungeheuer einen Karateschlag. Aber die Bestie fuhr sofort wieder herum und griff erneut an. Sie spie einen weißlichen Nebel aus. Coco warf sich zurück und entging dem gefährlichen Dunst nur um Haaresbreite. Das war Säure!
Sie hatte es mit der Bestie zu tun, die Gerard Despense getötet hatte! Die Bestie hatte im Hintergrund gelauert. Der Mann in der Lederkleidung war kaum mehr als ein Ablenkungsmanöver gewesen. Als Coco und Matteo sich sicher fühlten, schlug das Ungeheuer zu.
Sie sah Matteo in extremer Zeitlupe ins Gebüsch fliegen. Gleichzeitig überlegte sie fieberhaft, wie sie diesem Ungeheuer entgehen konnte. Kein Wunder, daß Silvie Tremon kaum etwas mitbekommen hatte. Bei der Schnelligkeit der Bestie war das einfach unmöglich.
Coco machte ein Bannzeichen. Aber die Bestie setzte sich darüber hinweg. Sie sprang erneut. Coco rollte sich zusammen. Das Ungeheuer flog über sie hinweg, die Hinterläufe und der schuppige Schwanz berührten sie dennoch. Coco schrie vor Schmerz auf. Aber im nächsten Moment schnellte sie sich wieder empor und spurtete in die entgegengesetzte Richtung auf den Rand der Lichtung zu. Matteo war endgültig im Busch gelandet.
Coco sah einen stabilen, tief hängenden Ast über sich, sprang hoch und wirbelte mit einem Klimmzug nach oben. Gerade noch rechtzeitig. Die Bestie war schon wieder unter ihr! Coco ließ sich wieder fallen und nahm dabei Kopf und Hals des Ungeheuers in eine Beinschere. Mit aller Kraft preßte sie die Schenkel zusammen. Das Biest gab einen röhrenden Laut von sich.
Coco spürte, daß sie den beschleunigten Zeitablauf nicht mehr lange aufrechthalten konnte. Ihre Kräfte erlahmten zusehends. Sie mußte ein schnelles Ende machen - oder sie nahm ein schnelles Ende. Wenn sie mit der Säure in Berührung kam, war es aus. Aber auch so konnte die Bestie sie mit ihren langen Krallen und Zähnen zerfleischen.
Vergeblich suchte sie nach Augen.
Das Ungeheuer hatte keine! Es mußte sich auf andere Weise orientieren. Coco zeichnete rasch ein weißmagisches Symbol auf den Kopf der Bestie. Dann hieb sie mehrmals rasch hintereinander mit beiden Fäusten zu, während sie mit den Beinen immer noch Hals und Kopf umklammerte und sich nicht abwerfen ließ, ganz gleich, was die Bestie auch versuchte. Sie wälzte sich hin und her, versuchte Coco unter sich zu begraben und schnellte wieder hoch, um sie abzuwerfen wie ein RodeoStier seinen Reiter. Coco suchte mit einer Hand in der Tasche ihrer Jeans nach einer Gemme, aber sie war nicht schnell genug. Plötzlich heulte die Bestie auf, kugelte sich gegen einen Baumstamm, und Coco wurde vom Schmerz des Aufpralls fast gelähmt. Sie mußte ihren Griff lockern.
Aus, dachte sie verzweifelt.
Dann glitt sie ungewollt in den normalen Zeitablauf zurück. Schlagartig verlor sie die Besinnung.
Auf der Lichtung war es fast ebenso dunkel wie unter dem Blätterdach. Dennoch erkannte Raffael Amalfi sofort, daß hier gekämpft worden war. Er schob sich halb schützend vor seine Tochter.
Er fragte sich, wo zum Teufel die Schlange herumraschelte.
Drüben richtete sich Matteo mühsam auf. Er wirkte benommen und bewegte sich, als sei er ernsthaft verletzt. Mitten auf der Lichtung lag ein Mann in schwarzer Lederkleidung, gefesselt. Und Coco Zamis…
Auch sie regte sich nicht.
„Kümmere dich um Matteo! Und paß auf deine verdammte Schlange auf', befahl Raffael. Lucia huschte auf ihren Bruder zu. Raffael lief zu Coco hinüber und drehte sie auf die Seite. Ihr linker Arm blutete aus einer langen Kratzwunde, sie war bewußtlos, und ihr Atem ging flach. Sie mußte zu Tode erschöpft sein. Raffael fragte sich, was geschehen war. Und vor allem: Wo war der Gegner?
Er hatte gesiegt und war geflohen? Das war nur schwer vorstellbar.
Alles in Raffael Amalfi verkrampfte sich, als er daran dachte, daß der Gegner vielleicht irgendwo in der Dunkelheit lauerte. Ein Gegner, der selbst mit einer Hexe fertig geworden war!
„Es war wie ein Schatten", keuchte Matteo. „Es ging alles so unheimlich schnell. Coco war auch kaum noch zu sehen. Ich begreifs nicht. Aber mein Arm brennt wie Feuer. Ich… ich kann nicht mehr auftreten. Heute nicht, Vater."
Raffael nahm es stumm zur Kenntnis. Er sah von Coco zu dem Gefesselten.
Und schrie auf.
„Die Schlange, verdammt!"
Sie ringelte sich über den Gefesselten. Lucia lief hinzu,
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