136 - Zigeunerspuk
sich zujagen. Trotz des schnelleren Zeitablaufs war die Kugel immer noch sehr schnell. Coco beschleunigte sich noch mehr und wich aus. Sie duckte sich unter der Schußbahn hinweg und lief vorwärts. Sie nahm dem Fremden die Waffe aus der Hand. Sie wußte, daß er sie jetzt nicht sehen konnte. Sie war viel zu schnell für ihn.
Sie betrachtete ihn im Licht von Matteos Lampe. Er trug Motorradkleidung, aber keinen Schutzhelm und keine Handschuhe. Coco öffnete seine Lederjacke und zog sie ihm über Schultern und Arme bis zu den Ellenbogen herunter. Dann zog sie den Reißverschluß wieder so weit zu, wie es eben ging. Der Mann würde gleich eine Menge Probleme mit seiner Jacke bekommen und war zunächst einmal ausgeschaltet. Coco war sicher, daß er nicht aus eigenem Antrieb auf sie geschossen hatte, deshalb griff sie zu dieser harmlosen Methode, um ihn erst einmal aus dem Verkehr zu ziehen.
Gefährlicher war der Dämon, unter dessen Bann der Fremde stand. Aber Coco konnte ihn nirgendwo spüren.
Sie kehrte wieder dorthin zurück, wo sie vorhin gestanden hatte, und ging in den normalen Zeitablauf zurück. Der mit seiner eigenen Jacke gefesselte Fremde fuhr überrascht zusammen, stieß eine Verwünschung aus und strauchelte bei der ersten hektischen Bewegung. Coco lachte leise auf. „An den Füßen habe ich ihn doch gar nicht gefesselt", schmunzelte sie.
Hinter ihr war die Kugel in einen Baum geklatscht.
Matteo riß Mund und Augen auf. Er begriff nicht, was er sah - bis er sich daran erinnerte, daß Coco Zamis eine Hexe war. Sie hatte ihre Zauberkunst gegen diesen schießwütigen Fremden eingesetzt. Der riß und zerrte an der Jacke und bekam dadurch den Reißverschluß ein paar Zentimeter weiter auf, daß er sich selbst befreien konnte. Hastig zog er die Jacke wieder hoch. Als er auf springen wollte, sah er in die Mündung seiner eigenen Pistole. Coco hatte den Finger am Abzug.
„Warum?" fragte sie nur.
Ihre Frage hatte hypnotischen Charakter. Sie setzte ihre Kraft ein, um den jungen Mann zu einer Antwort zu zwingen.
„Der andere…", keuchte er auf. „Der mit den zwingenden Augen… "
„Wie nennt er sich?" drängte Coco. „Rede, oder du stirbst."
Neben ihr baute sich Matteo auf. Er spielte mit seinem scharfen Wurfmesser. Möglicherweise verursachte das in dem Fremden mehr Angst als die Pistole.
„Ich kenne seinen Namen nicht. Er… zwang mich…"
Übergangslos schnellte er sich hoch, der Waffe entgegen. Coco schoß nicht. Sie war keine Killerin. Sie hatte geglaubt, der Anblick der Waffe würden den Mann von einer unbesonnenen Handlung abhalten. Aber der Zwang des Dämonischen war offenbar stärker. Der Mann in der Motorradkleidung flog mit übermenschlicher Kraftentfaltung hoch, prallte gegen Coco und riß sie mit sich zu Boden. Eine Hand schloß sich wie eine Stahlklammer um ihren Hals, die andere holte zu einem wilden Schlag aus.
Matteo griff ein. Ein Tritt wirbelte den Fremden herum. Matteo stellte sich halb über ihn und hieb mit beiden Fäusten zugleich zu. Bewußtlos sank der Fremde zusammen.
„Wir werden ihn fesseln und nach unten bringen", sagte er. „Da können wir ihn verhören."
„Ich verstehe das nicht", sagte Coco und erhob sich wieder. „Er mußte doch damit rechnen, daß ich schieße. Trotzdem griff er an. Es wäre sein Tod gewesen. Der Selbsterhaltungstrieb ist aber doch meist stärker als alles andere."
„Vielleicht ist er einer von diesen Irren, die den Nervenkitzel der Todesgefahr brauchen", sagte Matteo.
Er begann den Bewußtlosen mit seinem eigenen Gürtel zu fesseln. Als er sich wieder aufrichtete, flog etwas Dunkles quer über die Lichtung und traf ihn an der Schulter. Von der Wucht des Aufpralls wurde er mehrere Meter weit geschleudert und stürzte zwischen eine Baumwurzel und einen Dornenstrauch. Ein glühender Schmerz ging von seiner Schulter aus. Matteo stöhnte- auf. Er sah zwei wirbelnde Schatten auf der Lichtung gegeneinander kämpfen.
Coco hatte sich im selben Moment erneut in den schnelleren Zeitablauf versetzt, als sie den Schatten auf sich zufliegen sah. Im Fliegen rammte er ganz beiläufig Matteo und verriet dadurch die unbändige Kraft, die in ihm steckte.
Aber die Zeitveränderung half Coco nicht. Der andere bewegte sich ebenfalls überschnell! Sie waren sich jetzt im Bewegungstempo gleichwertig. Sie sah eine geifernde Raubtierfratze mit handspannenlangen Zähnen. Augen glühten wie Kohle im Feuer. Schwere krallenbesetzte Pranken schlugen nach der Hexe.
Weitere Kostenlose Bücher