1364 - Killer-Engel
weil sie ja dann gelogen ist. Oder ist das nicht richtig?«
Purdy lächelte verloren. Sie drehte sich zur Seite und schaute nach unten auf den Haarschopf des Jungen.
»Ich weiß es nicht«, sagte sie. »Ich weiß gar nichts mehr. Ich glaube, ich muss erst darüber nachdenken. Tut mir Leid für dich, Bruce.«
»Ach, das ist nicht schlimm, Mrs. Prentiss. Vorhin haben sie mich beschützt, jetzt werde ich Sie beschützen. Ich finde, dass es nur fair ist, oder?«
»Danke, Bruce, du bist lieb.« Sie strich über sein Haar. »Bleib du hier sitzen, ich werde mal auf dem Balkon gehen und mich dort ein wenig umschauen.«
»Glauben Sie denn daran, dass Sie was entdecken?«
»Das weiß ich nicht. Aber man darf den Glauben und die Hoffnung nicht aufgeben.«
»Ich sehe nichts.«
»Wir müssen uns vielleicht bemühen, die Dinge mit anderen Augen zu betrachten. Oder auch versuchen, hinter die Dinge zu schauen, die mit unseren normalen Augen nicht sichtbar sind.«
»Das versteh ich nicht.«
»Das macht nichts, Bruce.« Purdy lächelte verloren. »Auch die meisten Erwachsenen verstehen es nicht. Und vielleicht werden die normalen Menschen es niemals verstehen.«
Mit diesen Worten ließ Purdy Prentiss den Jungen allein und schritt auf die offene Balkontür zu. Auf dem Weg dorthin durchzuckten sie zahlreiche Gedanken, die sie allerdings nie in eine bestimmte Richtung bringen konnte. Es war einfach zu viel, was durch ihren Kopf strich. Eine klare Linie fand sie dabei nicht.
Der Abendwind erwischte auch sie. Purdy spürte das kühle Kribbeln auf ihrer Haut. Die Luft roch wieder normal. Es gab keine Duftstoffe darin, die der Lügenengel hinterlassen hatte.
Als sie den Balkon betreten hatte, war es ihr vorgekommen, als wäre sie in eine fremde Welt gegangen. Alles war so anders geworden. Die Schatten der Dunkelheit empfand sie als gewaltige Arme, die sie nicht loslassen wollten.
Obwohl sie niemand sah, der gefährlich werden konnte, fühlte sich die Staatsanwältin bedroht. Sie konnte sich gut vorstellen, dass jemand hinter der Dunkelheit und im Unsichtbaren lauerte, um plötzlich zuzuschlagen.
Vom Balkon, der über ihr lag, drangen Stimmen an ihre Ohren.
Eine Frau beschwerte sich darüber, dass es noch immer zu kalt war und sie sich die Sonne herbeisehnte.
»Ach, es wird noch warm genug im Sommer werden. Hör auf damit, dich zu beschweren.«
»Das sagst du als Fisch.«
Der Mann lachte.
»Schließ wenigstens die Tür.«
»Halte noch fünf Sekunden aus, dann bin ich fertig.«
Etwas wurde verrückt, und wenig später waren die Geräusche verstummt.
Es hatte der Staatsanwältin gut getan, dem Gespräch zu lauschen.
Es hatte ihr vermeldet, dass es noch eine Normalität gab und nicht nur das Schlimme, das sie an diesem Abend erlebt hatte. Es lebten normale Menschen, die sich normal unterhielten und überhaupt…
Doch ihre beiden Freunde waren verschwunden. Und diesen Vorgang konnte sie nicht zur Normalität zählen. Plötzlich steckte sie wieder in dieser verdammten Klemme. Einige Male schlug sie mit den Fäusten auf den Handlauf der Brüstung, ohne jedoch etwas erreichen zu können. Es blieb für sie alles unerklärbar. Da konnte sie noch so oft und so weit wie möglich in den Himmel schauen, sie sah einfach nichts. Die dichte Dunkelheit, die selbst den Glanz der Sterne verschluckt hatte, gab einfach nichts preis.
Purdy Prentiss sah ein, dass es keinen Sinn hatte, noch länger auf dem Balkon zu stehen und sich der Kühle der Nacht auszusetzen.
Sie wollte wieder zurück in die Wohnung, aber sie wusste auch, dass die Probleme die gleichen geblieben waren und sie sich durch sie einfach überfordert fühlte.
Das hier war kein Prozess, in dem sie mit einem blendenden Plädoyer glänzen konnte. Hier hatten sich die Realitäten verschoben, und das musste sie erkennen.
Bruce Everett hatte sich nicht von seinem Platz erhoben. Er saß wie ein braver Schuljunge auf der Couch und schaute zu, wie Purdy die Tür schloss.
»Haben Sie was gesehen, Mrs. Prentiss?«
»Leider nein.«
»Und was wollen Sie jetzt tun?«
Purdy ging weiter. Um ihre Lippen spielte dabei ein verlorenes Lächeln. »Das möchte ich auch gern wissen, Bruce. Aber ich schaffe es nicht. So sehr ich mir auch den Kopf zerbreche, es will mir einfach keine Idee kommen.«
»Sind Ihre Freunde denn für immer verschwunden? Werden sie nie mehr zurückkehren?«
Purdy ließ sich Zeit mit der Antwort. Sie schaute dabei einer Fliege nach, die sich hier im Zimmer verirrt
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