1364 - Killer-Engel
hatte auch seine Kleidung nicht aus dem Schlafzimmerschrank entfernt und auch nicht seine Waffen, die er dort versteckt hatte.
Er war perfekt im Umgang mit fast allen Waffen gewesen. Als Leibwächter hatte er das einfach können müssen, und er war in seinem Job verdammt gut und stets ausgebucht gewesen.
Purdy spielte mit dem Gedanken, die eine oder andere Waffe hervorzuholen. Das ließ sie jedoch bleiben. Es gab keine akute Gefahr für sie. Das, an was sie dachte, bestand eigentlich nur in ihrer Einbildung oder vielleicht auch nicht.
Die Staatsanwältin entschied sich für bequeme Kleidung. Jeans, einen roten grobmaschigen Pullover und flache Schuhe mit Noppensohle. In diesem Outfit fühlte sie sich etwas besser. Sie schaute noch in den Spiegel und fuhr mit den gespreizten Händen durch ihr rötliches Haar, das sie ein paar Mal aufwühlte.
Danach war sie mit sich selbst zufrieden. Allerdings nur mit dem Äußeren, denn innerlich blieb der Druck bestehen. Da war sie nicht locker. Im Schlafzimmer wollte sie nicht länger bleiben. Sie warf noch einen letzten Blick durch das Fenster und hätte eigentlich erleichtert sein müssen, weil sie draußen nichts Verdächtiges bemerkte, aber das war sie nicht.
Der Druck blieb.
Sie löschte das Licht, verließ das Zimmer, trat in den breiten Flur hinaus – und hörte ihre Klingel.
Abrupt blieb sie stehen!
Okay, es war noch nicht besonders spät und eine recht christliche Zeit, aber sie erwartete keinen Besuch. Wenn es etwas Dienstliches gewesen wäre, hätte man sie angerufen, aber wer schellte schon?
Purdy machte sich ihre Gedanken, als es zum zweiten Mal klingelte. Diesmal etwas länger.
Schnell hatte sie die Tür erreicht, aber sie öffnete sie nicht, sondern schaute durch das Guckloch.
Alle möglichen Besucher hätte sie erwartet. Sogar irgendwelche Aliens, aber nicht die Person, die tatsächlich von der Tür stand und etwas unter den Arm geklemmt hatte.
Sie kannte den Jungen. Er hieß Bruce Everett und wohnte mit seinen Eltern zwei Etagen im Haus über ihr.
Sie und der Junge sahen sich zwar nicht oft, aber wenn, dann vertrugen sie sich. Purdy hatte Bruce sogar einige Male mit zur Schule genommen, als es seinen Eltern wegen einer gemeinsamen Grippe schlecht gegangen war. Ob sie jetzt in der Wohnung waren, wusste Purdy nicht. Wahrscheinlich hatten sie kein Problem, sondern ihr Sohn.
Die Staatsanwältin schloss die Tür von innen auf und öffnete.
»Hallo«, sagte sie, »das ist aber ein Überraschung.«
»Kann ich reinkommen?«
»Bitte, wenn du willst.«
»Danke.« Bruce senkte den Kopf ein wenig und ging an Purdy vorbei, ohne sie anzuschauen.
Sie runzelte die Stirn. Der Junge trug einen Zeichenblock unter dem Arm, das hatte sie schon bemerkt. Wollte er ihr vielleicht seine Bilder vorstellen? Das wäre ungewöhnlich gewesen, aber einen Grund für den Besuch musste er haben.
Außerdem fiel ihr noch etwas an ihm auf. Er wirkte auf sie sehr ernst. Das kannte sie von ihren bisherigen Zusammentreffen nicht.
Da war er stets sehr aufgeweckt und gesprächig gewesen, im Gegensatz zu jetzt. Ihn schien etwas zu bedrücken.
»Wissen deine Eltern, dass du zu mir gekommen bist?«, erkundigte sie sich.
»Nein.«
»Warum hast du ihnen nicht Bescheid gesagt?«
Bruce hob jetzt den Blick. »Weil sie auf einer Party sind.«
»Ah ja, das versteh ich.« Sie hatte die Antwort einfach nur als Floskel gegeben, in Wirklichkeit dachte sie über den seltsamen Ausdruck in den Augen des Jungen nach. Der Junge kam ihr wirklich komisch vor. Er war nicht so offen, sondern mehr in sich gekehrt, und auch als sie gemeinsam zum Wohnzimmer gingen, sagte er kein Wort und hielt den Kopf weiterhin gesenkt.
»Möchtest du etwas trinken?«, fragte Purdy. »Schließlich ist es Pflicht des Gastgebers, seinen Gästen etwas anzubieten.«
»Limonade hätte ich gern.«
»Klasse, die habe ich im Kühlschrank. Warte einen Moment.«
Purdy verschwand in die Küche. Mit einer vollen Flasche und einem Glas in den Händen kehrte sie zurück. Gemeinsam betraten die beiden unterschiedlichen Personen den Wohnraum.
»Dann setzen wir uns doch mal hin, Bruce. Am besten dort auf die Couch.«
»Danke«, sagte er sehr höflich und ruhig.
In Purdy Prentiss stieg die Spannung. Sie konnte sich vorstellen, dass der Junge einen Grund hatte, sie zu besuchen, und dass dieser Grund ihn auch bedrückte.
Sie öffnete die Flasche, was mit einem leisen Zischen verbunden war, und schenkte ihm das Glas ziemlich voll.
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