1373 - Die vergessene Sage
war zwar die echte Glenda Perkins, die vor mir stand, doch ihr Verhalten glich dem einer völlig Fremden. Diese Reise hatte sie auf eine seltsame Art und Weise verändert.
Ich konzentrierte mich auf ihre Augen.
Das Gemälde mit der angeblich toten Frau sah ich zwar nicht vor mir, doch der Ausdruck in den Augen hätte eher zu dieser Kriegerin gepasst, denn er war völlig leer.
»Glenda«, flüsterte ich.
Sie blieb stumm.
Ich fragte zunächst weiter und berührte sie an der Hand. Sie fühlte sich nicht kalt an, ihre Haut besaß die normale Temperatur, aber auch jetzt erlebte ich keine Reaktion. Kein Zucken in den Augen und keine Bewegung der Finger.
Schweigen…
Es kam mir düster und bedrohlich vor. Ich sah die wenigen Lichter und dachte daran, in was für Haltern sie steckten. Dahinter waren sehr schwach die Wände zu erkennen, in denen die Köpfe ihren Halt gefunden hatten. Noch immer fragte ich mich, wo wir uns eigentlich befanden. Es konnte durchaus der Zugang zu einem Grabmal sein, und es machte Glenda nichts aus, es zu betreten.
Tat sie das freiwillig oder wurde sie gezwungen? Wenn ja, wer steckte dann dahinter? Oder welche Macht leitete sie?
Ob sie überhaupt wusste, wo sie sich befand? Ich konnte die Antworten nicht geben und erinnerte mich nur daran, dass sie auf der Couch eingeschlafen und in ihrem Schlafzimmer vor dem Bild stehend wieder erwacht war.
Der erste Versuch, mit ihr in Kontakt zu treten, hatte nicht geklappt, also unternahm ich einen zweiten, und diesmal sprach ich lauter.
»Bitte, Glenda. Hörst du mich?«
Ja, sie hörte mich. Sie nickte mir sogar zu, und sie gab mir eine Antwort.
»Ich bin die vergessene Sage…«
***
Der Satz war nur leise gesprochen worden. Er echote trotzdem durch mein Gehör. Mich überkam ein Gefühl, als würde sich alles in meinem Magen zusammenziehen.
»Ich bin die vergessene Sage…«
Ein klar gesprochener Satz, mit dem ich allerdings nichts anfangen konnte. Ich hatte etwas gehört, und zugleich waren die Rätsel größer geworden.
Es dauerte einige Sekunden, bis ich mich wieder gefangen hatte.
Zuvor hatte ich die Luft ausgestoßen, und auch jetzt konnte ich nur den Kopf schütteln.
Es war zudem eine fremde Stimme gewesen. So dunkel und auch mit leicht drohendem Unterton sprach Glenda Perkins sonst nie. Ich war auch davon überzeugt, dass sie ihre Stimme nicht verändert hatte, aus ihrem Mund war die Stimme einer fremden Person gedrungen. Das musste man so hinnehmen.
»Wer bist du, Glenda?«, sprach ich sie noch einmal an.
»Ich bin die vergessene Sage!«
Eine stereotype Antwort, die mich wirklich keinen Schritt weiterbrachte, was mich schon ärgerte. Sie war für mich zu einem Rätsel geworden, das ich lösen oder zu einem Panzer, den ich aufknacken musste. Und sie hatte mein Kreuz mit auf diese wundersame Reise genommen. Ich wollte sehen, ob es sich noch in ihrem Besitz befand.
Ja, sie hielt es fest. Die linke Hand hatte sie halb zur Faust geballt.
Aus ihr schaute ein kleines Stück meines Kreuzes hervor, nur reagierte es nicht.
Ich umfasste Glendas linkes Handgelenk und zog den gesamten Arm in meine Nähe. Ich wollte nicht mehr, dass das Kreuz länger in ihrem Besitz blieb, deshalb löste ich die Faust auf und zog meinen Talisman behutsam hervor.
Er war weder warm, noch kalt. Neutral. Ich hätte jedes andere Kreuz auch nehmen können, aber es war trotzdem etwas mit Glenda geschehen. Kaum hatte sie das Kreuz verloren, begann es mit ihrer Veränderung.
Sie saugte so geräuschvoll den Atem ein, dass ich mich erschreckte. Dann schlug sie um sich, schrie, sagte etwas dazwischen und stemmte sich gegen etwas an, dass sie so bedrängte.
Das andere war da, und ich sah es. Meine Augen weiteten sich, weil ich plötzlich zwei Frauen sah. Beide befanden sich genau dort, wo auch Glenda stand.
Die zweite Person hatte sich als Schatten über Glendas Gesicht und Körper geschoben. Sie erinnerte mehr an ein Spinngewebe, das sehr dünn war, aber auch dicht.
Durch diese Dichte hatte etwas entstehen können.
Ein Körper und ein Gesicht.
Es war die Frau auf dem Gemälde!
***
Dieses Bild zählte wieder zu den Überraschungen im Leben, die mich völlig unvorbereitet trafen. Da war die Grenze zwischen dem Fassbaren und dem Unfassbaren geöffnet worden, wobei mich das Unfassbare mehr interessierte und auch faszinierte.
Der Schatten zirkulierte in Glendas Nähe. Er war noch vorhanden. Ich sah ihn sehr deutlich. Nur wusste ich nicht, was diese heftigen
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