1383 - Hexenfriedhof
Reaktion entging. Die Detektivin schaffte es auch, sich zusammenzureißen, obwohl ihre Gedanken eine wilde Karussellfahrt hinlegten.
Küssen!
Die alte Hexe küssen. Den Mund auf ihre lappigen Lippen drückten, die an den Seiten von verkrusteten Blutresten eingerahmt wurden. Das alles war ihr zu viel. Das konnte sie einfach nicht.
Das Kichern der Alten riss sie aus dem Strudel der Gedanken.
»Du hast mich verstanden, Jane?«
»Ja, das habe ich.«
»Und?«
Jane hatte gewusst, dass diese Frage kommen würde, doch eine Antwort hatte sie nicht parat. Einem ersten Impuls folgend war sie dagegen, doch sie wollte dies der alten Hexe nicht so deutlich sagen.
Sie quälte sich sogar ein Lächeln ab und fragte: »Gibt es keinen anderen Weg, mir dein Erbe zu übermitteln?«
»Nein!«
Hart, knapp, lakonisch. So war die Antwort erfolgt. Für Sekunden schien die Hexe wieder die Kraft gewonnen zu haben, die sie früher ausgezeichnet hatte. Sie starrte Jane mit glänzenden Augen an und wiederholte: »Es gibt keine andere Möglichkeit!«
»Dann muss ich es mir überlegen.«
»Du willst nicht, wie? Du ekelst dich vor mir? Du ekelst dich davor, mich küssen zu müssen. O ja, das spüre ich. Aber ich sage dir eines. Viele andere würden sonst was dafür geben, dies tun zu dürfen. Das kann ich dir sagen. Sie würden jubeln und sich aus Dankbarkeit vor mir auf die Knie werfen. Aber was tust du?« Sie lachte schrill. »Du benimmst dich so schrecklich. So zickig. Wie ein kleines Kind. Es ist deine große Chance, zu Macht zu kommen, und nur du kannst mit dieser Macht umgehen.«
Jane wehrte ab. »Ach, es gibt sicherlich noch viele andere aus deinem Kreis, die das können.«
»Nein, die gibt es nicht! Hätte ich dich sonst geholt? Denk mal darüber nach.« Ihr Blick nahm an Intensität zu. »Tu es, Jane Collins. Tu dir selbst einen großen Gefallen. Mach dich groß. Mach dich mächtig, dann wird deine Zukunft in rosigen Farben erblühen. Mehr kann ich dir nicht sagen. Entscheide dich!«
Jane überlegte noch immer fieberhaft, wie sie dieser Situation entfliehen konnte. Einen Ausweg sah sie nicht, und sie spürte den Druck in der Kehle und auch in der Höhe des Magens.
»Kannst du mir dein Wissen nicht auf eine andere Art und Weise mitteilen?«
»Wie meinst du das?«
»Es mir sagen. Mündlich überliefern. All die wichtigen Dinge erklären, damit ich mich danach richten kann. Bitte, das wäre auch eine Möglichkeit.«
»Nicht für mich, Jane Collins. Du musst meine Kraft in dich aufsaugen. Es ist der Hauch der Hexe, der dich treffen wird. Er wird in dich eindringen und sich ausbreiten. Dir werden völlig neue Welten eröffnet. Du wirst einen anderen Blick auf die Dinge bekommen. Deine Kraft wird sich steigern und sich von der der normalen Menschen abheben. Du bist schon gut, aber du kannst noch besser werden.«
»Das glaube ich dir ja. Aber kannst du dir auch vorstellen, dass ich es gar nicht will?«
Elvira bewegte ihre knochigen Hände. »Nein, das kann ich mir nicht vorstellen. Nicht von einer Hexe, die…«
»Ich bin keine Hexe!«
»Aber du warst eine!« Elviras Stimme hatte sich so verändert, dass sie schon einem Kreischen glich. »Ja, du bist eine Hexe gewesen! Du hast sogar auf der Seite der Hölle gestanden. Einmal Hexe, immer Hexe, auch wenn du es nicht wahr haben willst und vieles wieder vergangen ist. Aber etwas ist zurückgeblieben, und deshalb gehörst du zu uns!«
Jane Collins wunderte sich darüber, mit welch lauter Stimme Elvira gesprochen hatte. Dazu brauchte sie jede Menge Kraft. Dass sie noch in ihrem Körper gesteckt hatte, war schon fast unheimlich.
Dass hinter ihrem Rücken etwas geschah, merkte Jane, als sie von einem Hauch gestreift wurde, von einem Luftzug. Sie drehte kurz den Kopf und war beruhigt, als sie Lucy Carver sah. Wahrscheinlich war sie von der schrillen Stimme alarmiert worden, die jetzt in einem Hustenanfall erstickt wurde.
Diesmal sah Jane das Blut. Es sprühte wie ein feiner Nebel vor den Lippen der Alten.
»Was ist denn passiert, Elvira?«
»Jane will nicht«, erwiderte die Alte keuchend.
»Bitte?«
»Ja, sie will mein Erbe nicht annehmen!«
Lucy stieß ein scharfes Lachen aus, das Jane eigentlich hätte warnen sollen. »Und ob sie das will. Sie muss es, und sie wird es auch tun. Nicht wahr, Jane? Du wirst es tun!«
Jane wollte schon ablehnen, als sie plötzlich den Druck eines harten Gegenstands in ihrem Nacken spürte, und sie wusste sofort, dass es die Mündung einer Waffe
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