1393 - Werwolf-Nacht
Knacken oder Reißen, und plötzlich spritzte Blut in die Höhe.
Kiri Bayonne war so weit zurückgewichen, dass sie nahe der Tür stand. Von dort konnte sie nicht mehr über den Schreibtisch hinwegschauen und sehen, was dahinter geschah.
Allerdings wusste sie auch so, was passierte. Ihre Mutter war kein Mensch mehr. Sie hatte sich verwandelt. Sie konnte nicht anders handeln, und Kiri wusste genau, dass auch sie bald so handeln würde. Es gab den Fluch, es gab das Schicksal, und sie waren durch dieses Band miteinander verbunden.
Sie hätten es damals nicht tun sollen, aber sie hatten sich einfach nicht überwinden können, den Schatz zurückzugeben. Jetzt war es zu spät. Sie waren beide infiziert. Wieder mussten sie eine Leiche verschwinden lassen.
Sie würden es auf die gleiche Art und Weise tun wie beim letzten Mal. Zum Glück gab es um London herum viele einsame Stellen, und das Wasser des Flussarms schluckte alles.
Sie hatte Durst. Eine Flasche Wasser stand in der Nähe. Während sie trank, hörte sie die Geräusche aus dem Büro. Kiri kannte sie, aber sie waren trotzdem schlimm für sie.
Nach zwei kleinen Schritten ging sie zu einem Spiegel, der fast bis zum Boden reichte. Dort blieb sie stehen und schaute ihr Ebenbild an. Sie sah eine schlanke junge Frau mit einem schmalen Gesicht, in dem die beiden Wangenknochen auffallend hoch standen und die Augen eine gewisse Schräge hatten. Blasse Augen waren es. Sie schienen sich dem ebenfalls blassen Haar angepasst zu haben, dessen Farbe zwischen Blond und Silbern schimmerte.
Es war okay. Sie würde auch so bleiben. Vorerst noch. Stunden später würde es anders aussehen, aber darum machte sie sich jetzt keine Gedanken.
Aus dem Büro hörte sie nichts mehr. Dafür sah sie erneut ihr Spiegelbild an, und sie hatte das Gefühl, als wäre es in den letzten Sekunden ein wenig verschwommen geworden.
Das wies darauf hin, dass sie in dieser Nacht auch nicht mehr so bleiben würde, wie sie jetzt aussah.
Dann blickte sie auf ihre Hände. Bei ihr war die Haut ziemlich hell, sie passte ebenfalls zu den Haaren, doch die Haare, die sie jetzt sah, die wuchsen nicht auf ihrem Kopf, sondern auf dem Handrücken als schimmernder grauweißer Flaum.
Da war ihr endgültig klar, dass sie und ihre Mutter in den Van steigen mussten, um London zu verlassen, denn es lag wieder eine besondere Nacht vor ihnen.
In ihrem Rücken hörten sie das Kratzen. Es wurde von den Fußkrallen verursacht, die leicht gekrümmt über den Boden hinwegschabten. Sie wusste, was das Geräusch zu bedeuten hatte, und drehte sich um.
Die Mutter kam auf sie zu. Da gab es nichts Menschliches mehr an Alice Bayonne.
Sie war zur Bestie geworden, und das würde sie bis zum Morgengrauen bleiben…
***
Es machte mir keinen Spaß, auf Suko zu warten, besonders nicht in dieser Umgebung und bei der Witterung. Ich konnte mir jetzt praktisch vorstellen, was die Berber hier durchmachten, wenn sie in ihren Buden hockten und darauf warteten, dass die Dunkelheit verschwand. Auch dann waren ihre Chancen nicht unbedingt besser, aber ändern konnte ich ihr Schicksal nicht.
Ich wartete auch nicht unter der Brücke, sondern ging mit langsamen Schritten am Ufer entlang durch die Stille der Nacht. Kein fremdes Geräusch störte mich. Manchmal hörte ich das Klatschen der Wellen gegen die Uferseite, und auf mich wirkte es beruhigend.
Bis zur Tageswende hatte ich noch Zeit. Der Abend näherte sich seinem Ende, jetzt begann die Nacht, doch in meiner Umgebung hatte sich nichts verändert.
Bis ich zu einer Stelle am Ufer gelangte, an der mehrere Krüppelbäume standen. Mir fiel schon bald auf, dass von einem der Zweige etwas hing und unter der Uferböschung verschwand. Da ich sehr neugierig war, ging ich hin und untersuchte die Stelle.
Ein Ruderboot dümpelte auf dem Wasser. Was ich gesehen hatte, war das Tau, mit dem man es an den Strauch festgebunden hatte. Er und die anderen seiner Brüder hatten ihre Blätter verloren, die vom Wind auch in das Boot hineingeweht worden waren.
Zwei Ruderstangen sah ich auch. So konnte man von einem Ufer zum anderen rudern, wenn man nicht eben die Brücke benutzten wollte. Auch keine schlechte Lösung.
»Ach, du hast unser Boot gefunden!«
Sir Benny war mir gefolgt und hatte mich angesprochen. Ich drehte mich, nickte ihm zu und fragte: »Gehört es euch?«
»Klar.«
»Wofür braucht ihr es?«
Er winkte ab. »Es gibt immer mal Leute, die sich sportlich betätigen wollen.«
»Auch
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