140 - Kastell der namenlosen Schrecken
verschmolzen, blickten ihre weit offenen Augen unverwandt Dorian Hunter an, als wollten sie ihm eine stumme Botschaft vermitteln.
An diesem Abend hatte sich Iris de Beauvallon noch mehr Mühe gegeben. Auf dem Tisch breitete sich ein wahres lukullisches Paradies aus, oder wenigstens ein Ausschnitt davon.
Iris und Jean-Jacques hoben ihre Köpfe und schienen für einen kurzen Augenblick zu erschrecken. Dann sprang der Architekt auf und murmelte verblüfft: „Diese Ähnlichkeit! Bist du sicher, Iris, daß du nicht eine Zwillingsschwester irgendwo hast?"
Dorian stellte Roquette vor und erklärte seine Version ihrer gemeinsamen Bekanntschaft.
„Was sagt Roquette?" wollte Iris wissen und führte sie in unkomplizierter, ehrlicher Herzlichkeit zum Tisch.
Dorian übersetzte:
„Sie sagt, daß auch sie über die Ähnlichkeit verblüfft ist. Sie findet Sie sehr nett, Iris. Sie hat mir auch geholfen, ein paar Seiten dieses Buches zu entziffern. Aber sie lernt fleißig das ,richtige' Französisch."
Sie setzten sich zu Tisch. Der Architekt erzählte vom Fortgang der Bauarbeiten. Dorian berichtete, was er über die Geschichte von Le Castellet wußte, sparte aber sorgsam alle Elemente aus, die auf seine unheimliche Profession hindeuteten. In der Gruft hatte sich, da sie nach wie vor versiegelt war, nichts geändert, stellten Docroq und Jean-Jacques fest. Auch heute gab es auf dem Gelände eine Wache. Man war sicher, daß irgendwelche Strandläufer die Spuren im Erdreich hinterlassen hatten. Voller Erschütterung hörten die Beauvallons zu, was Dorian ihnen erzählte. Man aß langsam und trank den Wein in kleinen Schlucken.
„Werden Sie heute nacht wieder Ihre geheimnisvollen Beobachtungen machen?" fragte Iris.
„Ja. Ich bin mit meiner Analyse noch nicht fertig."
„Hoffentlich irre ich mich nicht", warf Jean-Jacques ein. „Aber mir erschienen die Arbeiter des Maitre heute viel weniger bedrückt."
„Die Zeit hilft ihnen über ihre Furcht hinweg. Sie haben geahnt, was wir wissen; in Wirklichkeit fürchten sie sich vor den Erinnerungen an diese schreckliche Zeit der wahnsinnigen Grafen." „Woher Sie nur dieses Wissen haben, Dorian?"
„Wenn man ein solch ausgefallenes Hobby hat wie ich…!"
Jean-Jacques wollte wissen, wie sich Dorian sein weiteres Vorgehen vorstellte.
„Ich werde, nach alldem, was ich aus der Chronik habe, heute noch einmal nachsehen. Es ist durchaus möglich, daß schon in wenigen Tagen niemand mehr an die schrecklichen Vorkommnisse denkt. Eines kann ich Ihnen schon jetzt sagen: alle jene dekorativen Schnörkel, Jahreszahlen und Buchstaben müssen von den Mauern abgeschliffen werden. Sie sind etwas Ähnliches wie hypnotisierende Figuren, die Sie in jedem Lehrbuch der Psychologie finden. Sie verwirren, wenn man sie zu lange ansieht, den Verstand."
„Tatsächlich? Das ist technisch machbar, aber nicht ganz billig.
„Der nächste Tote oder Verrückte, mein lieber Jean-Jacques, ist weitaus teurer. Versuchen Sie, nächste Woche vielleicht, von der Polizei eine vorübergehende Freigabe der Gewölbe zu erhalten." „Danke für Ihren Rat. Sandstrahlgebläse, nicht mit Sand, sondern speziellem Korund gefüllt."
„Da geht es sicherlich am schnellsten. Und anschließend haben Sie ein herrlich glattes Gemäuer." „Einverstanden."
„Haben Sie mir die Brechstange mitgebracht?"
„Zwei Stück. Lehnen am Rad Ihres Wagens, Dorian."
Das Essen schmeckte womöglich noch besser als am ersten Abend, und es zog sich lange hin. Den Abschluß bildeten große Gläser eines herrlich riechenden klaren Fruchtschnapses von hohem Alkoholgehalt. Von Dorian übersetzt, unterhielten sich die beiden Frauen über das Essen und das Haus. Schließlich war es Zeit, aufzubrechen.
„Ich würde gern zusehen bei Ihrer Arbeit, Dorian", meinte Iris. Er schüttelte energisch den Kopf.
„Es würde mich zu sehr ablenken, wenn mir zwei so schöne Frauen über die Schulter schauen!" wies er sie ab. „Vielleicht in ein paar Tagen."
Roquette war als alte Freundin Dorians sofort mit derselben Gastfreundschaft aufgenommen worden. Noch gab es in diesem Punkt keine Probleme. Dorian und Roquette verabschiedeten sich, und der Dämonenkiller trug seine Werkzeuge in den Wagen.
Die Brecheisen, fast armlang, mit geschliffenen und gebogenen Spitzen, warf er auf den Rücksitz. Sie klirrten bedrohlich während der ganzen Fahrt gegeneinander. Das Leihauto wurde am selben Platz versteckt, und dann sah Roquette schweigend zu, wie sich Dorian
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