141 - Dämonenbilder sieht man nicht
Elsbeths Mutter schlug die Hände vors Gesicht und taumelte herum. Sie wäre aufs nächste Grab gefallen, hätten hilfreiche Hände sie nicht aufgehalten.
Atemlose Stille herrschte. Noch war niemand in der Lage, das Ungeheuerliche des Vorfalls zu begreifen. Selbst der Pfarrer zeigte alle Anzeichen des Entsetzens, als er in die Grube hinabblickte. Unga zwängte sich nach vorne. Was er sah, verschlug auch ihm für einen Moment die Sprache. Keine Spur von dem Mädchen, das beerdigt werden sollte. In dem Sarg lag Burian Wagner. Das heißt, durch den Aufprall war er herausgerutscht und lag nun verrenkt auf dem durchnäßten Lehmboden. Er schien tot zu sein.
Unga pfiff auf alle Konvention. Während die Trauergemeinde sich halb auflöste und nur einige Beherzte in der Nähe des Grabes verharrten, während der Pfarrer das Kreuz schlug und die Träger sich gegenseitig der Unvorsichtigkeit bezichtigten, schwang er sich nach unten. Er achtete nicht darauf, daß der Lehm seinen Anzug verschmutzte und er bis zu den Knöcheln im Schlamm versank. Donald Chapman schob sich schimpfend aus seinem Versteck hervor. Er verstummte jedoch schlagartig, als er sah, was geschehen war.
„Bleib in Deckung!" raunte Unga ihm zu.
„Sie müssen die Leiche im gerichtsmedizinischen Institut vertauscht haben", erklang es von oben herab.
Burian Wagner atmete nicht. Seine Haut fühlte sich kalt an. Flüchtig tastete Unga ihn ab - er hatte keinerlei magische Utensilien bei sich.
Der Cro Magnon zog seinen Kommandostab hervor und legte das aus Knochen geschnitzte Gerät an Wagners Schläfen. Der Stab bewegte sich leicht.
„Hören Sie sofort auf mit dem Unfug!" rief der Pfarrer.
„Kommen Sie herauf!"
„Er lebt", erwiderte Unga.
„Wie wollen Sie das feststellen? Sind Sie Arzt?"
„Nein, aber ich verstehe einiges davon."
Der Pfarrer deutete auf den Kommandostab. „Ich wünsche nicht, daß Sie Ihren heidnischen Kram fortführen. Nicht in meiner Gegenwart."
Unga zuckte nur mit den Schultern und wandte sich wieder Burian zu. Deutlich erkannte er, daß der Freund einem schwarzmagischen Bann unterlag. Eigentlich mußte er dem Zufall dankbar sein. Denn wäre der Sarg nicht abgestürzt, Burian Wagner wäre lebendig begraben worden, und niemand hätte je erfahren, daß er und nicht seine Cousine Elsbeth in dem Grab lag.
Mit dem blattförmig verbreiterten Ende des Kommandostabs berührte Unga Burians Lippen. Beschwörungen murmelnd, griff er zugleich in seine Tasche und zog zwei Gemmen hervor, von denen er eine auf Burians Stirn und die andere auf sein Herz legte. Der Erfolg wurde fast augenblicklich sichtbar. Düsternis schien von dem Reglosen auszugehen, wie Nebel, der langsam aus seinem Körper hervorkroch. Das Wallen verdichtete sich, verharrte eine Weile unbewegt über Burian und explodierte dann förmlich. Schwärze überschwemmte das offene Grab, quoll daraus hervor und verflüchtigte sich. Vorübergehend lag ein verhaltenes Raunen in der Luft.
Unga nahm die Gemmen wieder an sich und steckte den Kommandostab ebenfalls ein. Auf Burians Stirn hatte sich ein kreisrunder blutunterlaufener Fleck gebildet. Aber er atmete wieder.
Sekunden später schlug er die Augen auf.
„Unga", war das erste, was er stockend hervorbrachte. Sein Blick wanderte vom Cro Magnon über die Lehmwände zu den Überresten des Sarges. „Was ist geschehen?"
„Genau das wollte ich dich fragen."
Einer der Träger ließ eine Leiter herab, die er besorgt hatte. Er deutete auf Burian: „Der Mann wäre fast lebendig begraben worden. Wie kann so etwas geschehen?"
„Die Wege des Herrn sind oftmals unerforschlich", sagte der Pfarrer. „Sei dankbar, mein Sohn, daß er dich vor dem sicheren Tod bewahrt hat."
„Das ist er", nickte Unga. „Das ist er sogar ganz bestimmt."
Was jetzt kam, war für ihn und Burian das reinste Spießrutenlaufen. Fragende, bohrende Blicke trafen ihn von allen Seiten. Die meisten der Umstehenden gaben sich erst gar keine Mühe, ihr Entsetzen zu verbergen. Elsbeths Mutter, die bleich und zitternd am Stamm einer Trauerweide lehnte, begann hysterisch zu schreien.
„Was hast du mit meiner Tochter gemacht, Burian? Wo ist sie?"
„Leichenschänder", rief jemand.
„Er war schon immer eigenartig", fügte ein anderer hinzu. „Aber jetzt soll er sich sogar mit Schwarzer Magie befassen."
Unga zog Burian einfach mit sich, beschleunigte unbewußt seine Schritte. Er ahnte, daß es Ärger geben würde, wenn er zögerte. Und er hatte erst recht kein
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