1417 - Der Würgeengel
war Marek wichtiger. Ich stand neben der Leiche und schaute in das Gesicht, das einen so friedlichen Ausdruck angenommen hatte.
Der Hass, die Gier, der Wille, an das Blut eines Menschen heranzukommen, all das war verschwunden. Hier lag ein Mensch, der vor dem Tod Frieden mit sich und der Welt geschlossen hatte. Zumindest nach außen hin.
In seiner Brust befand sich ein Loch. Der Pfahl hatte es gerissen, als ich ihn hineingerammt hatte. Zu sehen war es nicht mehr. Es wurde durch das Hemd verdeckt, und als ich mich darauf konzentrierte, da tauchte die Szene wieder vor meinem geistigen Auge auf.
Frantisek Marek war scharf auf mein Blut gewesen. Dass er jetzt hier lag, war praktisch von meiner Seite her eine entsprechende Notwehr.
Der Pfähler konnte nicht mehr sprechen, aber ich konnte es, und ich hatte auch den Wunsch, mit ihm zu reden, obwohl ich keine Antworten bekommen würde.
Ich musste etwas loswerden. Ich wollte mich praktisch entschuldigen oder mein Gewissen erleichtern. Das ging nur mich etwas an, und deshalb war ich auch allein gekommen. Das hier war nur etwas, das mich anging.
Er konnte mich nicht mehr hören, und trotzdem erleichterte ich meine Seele. Ich wollte sie von dem Druck befreien. Ich sprach über die alten Zeiten, über die Gemeinsamkeiten. Ich lachte zwischendurch, mir kamen auch mal die Tränen, und ich dachte dabei an seine Frau Marie, die ebenfalls zu einem Vampir geworden war und die ich mit einer geweihten Silberkugel erlöst hatte.
Bei Marek war es der Pfahl gewesen. Letztendlich waren beide auf eine nicht natürliche Art und Weise gestorben.
Ich hatte es mir nicht aussuchen können, und ich wünschte mir sehr, vieles rückgängig machen zu können.
Es war nicht mehr möglich. Das Gleiche hatte ich bei meinen Eltern erlebt und vor nicht allzu langer Zeit bei Lady Sarah Goldwyn, der Horror-Oma.
Nun war es Marek, der Pfähler, gewesen, und ich fragte mich, wer der Nächste in der Reihe war.
Ein Kind hätte mich sicherlich gefragt, ob er jetzt im Himmel war.
Wo immer man den Himmel sah oder sich ihn vorstellte, ich hätte dem Kind positiv geantwortet.
Ja, Frantisek war ein guter Mensch gewesen, der die Welt von der verfluchten Vampirpest hatte befreien wollen. Was in seinen Kräften stand, das hatte er getan. Dafür gebührte ihm noch im Nachhinein ein großer Dank.
Es berührte mich irgendwie positiv, dass er im Tod entspannt aussah. So hatte man den Eindruck, dass er nur schlief, aber dieser Schlaf war zugleich der Übergang in die Ewigkeit.
Ich hatte mit dem Toten gesprochen und wollte ihm noch meine letzten Worte sagen, was mir verdammt schwer fiel, denn die Kehle saß irgendwie zu. So musste ich mich mehrmals räuspern, um sprechen zu können.
»Ich hoffe, dass es irgendwann ein Wiedersehen gibt, alter Freund. Und ich verspreche dir, dass ich auch in deinem Namen weitermachen werde. Du sollst nicht umsonst gestorben sein…«
Ich nickte. Räusperte mir noch mal die Kehle frei, und als ich dann zum Abschied über seine kalten Wagen strich, da konnte ich die Tränen nicht mehr zurückhalten.
Eine lange Freundschaft hatte ihr Ende gefunden, doch die Erinnerung an den Pfähler würde nie vergehen.
Mit schwerfälligen Bewegungen drehte ich mich um. Ich hatte das Gefühl, Eisen in den Füßen zu haben. Ich ging zwar zur Tür, aber ich öffnete sie noch nicht. Mit einem Taschentuch trocknete ich das Tränenwasser in den Augen. Einige Male musste ich die Nase hochziehen und war froh, in diesen Augenblicken allein zu sein.
Dann öffnete ich die Tür und zog sie auf. Auf der Schwelle drehte ich mich noch mal um.
Es war der letzte Blick, den ich einem alten Freund gönnte. So würde ich ihn nicht mehr sehen, denn schon sehr bald würde sich der Deckel des Sargs über ihm schließen.
Aber die Erinnerung an den Pfähler würde bei mir und meinen Freunden nicht verlöschen…
***
Ich hatte mir auf dem Weg zu Russos Büro hin Zeit gelassen und mir noch einige Male über die Augen gewischt. Jetzt hatte mich wieder die andere Seite des Lebens zurück. Der Kampf ging weiter, und es war auch kein Ende in Sicht.
Mit dem Lift war ich wieder in die Oberwelt gefahren. Auf dem Gang erwischte mich der Duft von frisch gekochtem Kaffee. Luke Russo hatte seine Bürotür nicht geschlossen. So brauchte ich nur dem Aroma zu folgen, um den Ort zu erreichen.
Der Mann mit den rotblonden Haaren saß an einem kleinen Schreibtisch, auf dem ein Computer stand, der auf dem Tisch viel zu groß
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