1422 - Mörderischer Muttertag
Das Wort Mutter vermied er.
Tinas Schultern zuckten hoch. »Ich weiß nicht, was ich noch glauben soll. Es ist alles so anders geworden. Es gibt dabei keinen Bezug mehr zur Realität. Ich habe wirklich keine Ahnung, was ich glauben soll. Die Dinge laufen aus dem Ruder. Wir drei Geschwister haben uns unser Leben aufgebaut. Das Heim liegt hinter uns. Keiner hat es vergessen, aber verdrängt, wie auch die schreckliche Nacht, als Vater umgebracht wurde. Für mich ist es schon ein Wunder, dass die Dinge bei uns so gut gelaufen sind, und jetzt kehrt alles wieder. Ich sehe da eine riesige Wand auf mich zukommen. Ein fürchterliches Unwetter mit Donner und Blitz, das uns alle treffen kann.«
»Ja, das mag wohl stimmen. Nur – hast du eine Idee, was wir unternehmen können?«
»Nein.« Tina hob eine Hand. »Aber wir könnten unser Gewissen durch einen Anruf beruhigen. Du weißt, was ich meine.«
»Klar. Da ist das Handy.«
Tina musste nur den Arm ausstrecken und hielt es in der Hand.
Sams Nummer kannte sie auswendig. Sie tippte sie ein und war froh, dass der Ruf durchging.
Wenig später malte sich Enttäuschung auf ihrem Gesicht ab. Mit starrem Blick schaute sie Elton an.
»Er meldet sich nicht«, flüsterte sie.
Elton schwieg.
Tina legte das Handy aufs Bett. »Was machen wir denn jetzt? Sollen wir so tun, als wäre nichts passiert und einfach hier warten? Ich für meinen Teil kann das nicht.«
»Ich auch nicht.«
»Das heißt, wir fahren zu ihm.«
»Ja.« Elton schwang sich bereits aus dem Bett. »Ich will wissen, was mit ihm ist.«
»Er hatte doch einen Termin…«
»Kennst du seine Handynummer?«
»Nein.«
»Ich auch nicht, Tina. So eng miteinander vertraut waren wir ja in letzter Zeit nicht.«
»Könnte es nicht sein, dass er bei seinem Freund ist?«, fragte sie mit leiser Stimme.
»Ich denke nicht. Da läuft nichts mehr. Dieser Dennis ist bei Nacht und Nebel verschwunden. Das hat Sam mir gesagt.«
»Dann müssen wir fahren!«
Gemeinsam verließen die das Schlafzimmer. Im Flur brannte nur eine kleine Notlampe. Es herrschte ein gewisser Dämmerzustand, aber man konnte sich noch orientieren.
Der Weg zur Haustür war nicht weit, aber sie erreichten den Ausgang nicht. Etwa drei Schritte davor traf sie die Stimme, die einer Person gehörte, die sie nicht sahen.
»Hallo, ihr beiden!«
Sie blieben abrupt stehen. Tina und Elton erbleichten. Sie sahen aus, als hätte man ihnen gegen den Kopf geschlagen.
»Das war sie!«, flüsterte Tina nach einer Weile. »Verdammt, das ist unsere Mutter…«
Elton sagte nichts. Jedoch war zu sehen, wie sich die Gänsehaut auf seinem Körper ausbreitete. Er stimmte ihr zu, nur zu begreifen war es nicht. Beide drehten die Köpfe, weil sie nach der Quelle der Botschaft suchten.
»Nichts«, raunte Elton.
Tina nickte nur. Dann fiel ihr etwas ein, und sie sprach es sofort aus. »Hast du eine Waffe im Haus?«
»Keine. Nur Messer aus der Küche.«
»Das bringt uns nicht weiter.«
Tina hatte den Satz kaum ausgesprochen, als beide eine Antwort erhielten. Es begann mit einem Kichern, das in einem Lachen endete, und dann hörten sie die Flüsterstimme.
»Heute ist Muttertag, ihr beiden. Heute, morgen, übermorgen, so lange, wie ich es will. Bis ich meine Aufgabe beendet habe und der Teufel mich annimmt.«
Die Geschwister schauten sich an. Keiner wusste etwas zu sagen.
Sie fühlten sich eingekreist, aber sie sahen Tamina Baker nicht. Sie hielt sich versteckt, und vielleicht war sie gar kein Mensch mehr und unsichtbar.
»Einen Teil habe ich erfüllt. Ein Drittel, und die beiden anderen werden noch folgen.«
Das war ein Versprechen, und damit zog sie sich zurück, nachdem sie kurz gelacht hatte.
Tina und Elton blieben im Flur stehen und schauten sich nur an.
Mehr als eine Minute verstrich, bevor Tina wieder etwas sagen konnte.
»Ich glaube, sie ist wieder weg.«
»Ja, kann sein.«
»Hast du ihre Worte behalten?«
»Und wie.«
»Sie sprach von einem Drittel ihrer Aufgabe, das sie bereits hinter sich hat. Zwei Drittel liegen noch vor ihr. Wenn ich das richtig auslege, dann hat sie ihren mörderischen Muttertag bereits mit einer Leiche begonnen.«
»Denkst du an Sam?«
»An wen sonst?«
Elton drückte die Hand gegen seine Stirn. Dann sagte er: »Wir fahren hin. Er hat sich nicht gemeldet, und sicher kann er das auch nicht. Er wird sich nie mehr melden.«
Tina erwiderte darauf nichts. Aber sie war mit dem Gesagten völlig einverstanden.
»Dann lass uns
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