143 - Die Höllenfahrt des Geisterzugs
überdimensionales Konterfei verschwunden. In der Ferne wetterleuchtete es. Der Zug näherte sich einer starken Gewitterfront, die wahrscheinlich mit Hagel einherging.
„Haben Sie etwas gesehen?"
„Nein." Wagner schüttelte den Kopf. „Wir müssen einer Täuschung aufgesessen sein. Womöglich eine Art Fata Morgana."
„Meinen Sie?"
Burian ließ sich wieder auf seinen Platz nieder, den Blick unverwandt zum Fenster hinaus gerichtet, wo die vorbeiziehende Landschaft zunehmend schlechter zu erkennen war. In wenigen Minuten würde die Bahn die Bundesstraße nach Peißenberg überqueren.
Dräuend kroch die Schwärze näher. Die Sicht reichte kaum noch über den Bahndamm hinweg.
„Der Nebel wird dick wie Erbsensuppe", kommentierte Burians Mitreisender. „Ein scheußliches Wetter. Dabei hat der Wetterbericht anhaltend hohe Temperaturen gemeldet." Er begann in der Zeitung zu blättern, die Burian achtlos zur Seite gelegt hatte. Nach einer Weile stutzte er. „Hier, haben Sie das gelesen? Von dem Heilpraktiker in Garmisch. Es scheint sie also doch zu geben."
„Was?"
„Dämonen!"
„Der Artikel ist eine einzige Farce", winkte Wagner ab. „Glauben Sie nicht alles, was solche Schreiberlinge verfassen." Er schwieg wieder, lehnte sich zur Seite und zog den Vorhang halb über sein Gesicht. Doch er schlief nicht. Das Erscheinen von Luguris Antlitz zwischen den Wolken ließ ihm keine Ruhe. War der Erzdämon erneut hinter ihm her? Aber warum? Was machte ihn, Wagner, für den Fürsten der Finsternis so wichtig?
„Ich weiß es nicht."
„Bitte?"
Erst die irritierte Frage seines Gegenübers ließ Burian erkennen, daß er mit sich selbst geredet hatte. Selbstgespräche waren sonst nicht seine Art; er mußte weit mehr verunsichert sein, als er es sich eingestand. Im Augenblick blieb er wahrscheinlich noch unbehelligt. Aber wann würde Luguri zuschlagen? Sobald er in München den Zug verließ?
Der Nebel begann bereits, sich auf den Scheiben niederzuschlagen. Überraschenderweise trotzte die Feuchtigkeit sogar dem Fahrtwind. Dicke, schwere Tropfen bildeten sich und begannen, kreuz und quer über das Glas zu wandern.
Wo die Nässe den von außen haftenden Staub aufsaugte, entstanden deutliche Muster. Eine Weile sah Burian den Tropfen zu, die sogar senkrecht an der Scheibe empor wanderten. Doch plötzlich durchzuckte es ihn siedendheiß.
Die vielfältigen Linien und Windungen besaßen magische Wirkung. Er konnte sich nicht irren. Draußen mußte es empfindlich kühl geworden sein, denn das Fenster begann anzulaufen. Ohne zu zögern, streckte Burian Wagner die Rechte aus und malte seinerseits Bannzeichen und Symbole auf die Scheibe. Mit dem Erfolg, daß der feuchte Niederschlag zum Stillstand kam.
Gerhard Baum war noch einer der Lokführer des alten Schlages, die in der Zeit der Intercity-Züge die romantische Seite der Eisenbahn zunehmend vermißten. Aber immerhin brauchte er sich weder über Automatisierung noch über Streckenstillegungen den Kopf zu zerbrechen, wartete er doch schon sehnsüchtig auf seine Pensionierung in einem halben Jahr. Dann, so hoffte er, würde er endlich für seine Hobbys Zeit finden, die stets zu kurz gekommen waren.
Gerhard Baum war stolz, wieder im Führerhaus einer Dampflok stehen zu dürfen. Zu verdanken hatte er dieses selten gewordene Erlebnis der Tatsache, daß die Bundesbahn sich der Werbewirksamkeit der alten Kolosse zunehmend bewußt wurde. In München war für die nächsten Tage eine Sonderschau geplant, mit Sternfahrten, Besichtigungen und all dem Trubel, der eben dazugehörte.
Danach würde ein Stück guter alter Zeit leider wieder nur Geschichte sein.
„Träumst du?" Der leichte Spott in der Stimme des Heizers schreckte ihn auf. „Sieh dir das Wetter an. Nebel kommt auf."
„Und wenn schon", erwiderte Baum leichthin. „Wenn es sein muß, fahre ich die Strecke sogar blind."
Der Heizer lachte und schloß mit der Schaufel die Feuerluke. „Du solltest trotzdem weniger Dampf auf die Kolben geben."
Unaufhaltsam kroch der Nebel näher - ein gieriger, alles verschlingender Moloch. Baum hatte das Gefühl, in einen endlosen Tunnel hineinzufahren. So weit er zurückdenken konnte, hatte er so etwas nicht erlebt. Selbst das Nebengleis verschwand allmählich im wallenden Dunst.
Der Lokführer drosselte die Leistung weiter. „Das ist unglaublich", sagte er vor sich hin.
Der Nebel schien zu leben, kroch jetzt bereits in dichten Schwaden über den Boden des Führerstands. Ein
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