1437 - Der weibliche Tod
mauert. Vielleicht will man nicht an alte Geschichten erinnert werden.«
»Nenne mir einen anderen Weg.«
»Ganz einfach. Wenn wir weiterkommen wollen, müssen wir es über Moskau versuchen. Ein Anruf bei Wladimir Golenkow wäre gut. Er könnte einige Leute fragen und veranlassen, dass man uns die Türen öffnet.« Suko hob die Schultern. »Mehr weiß ich auch nicht zu sagen.«
»Und das hört sich nicht mal schlecht an.«
»Eben.«
In mir steckte plötzlich eine innere Unruhe. Ich hatte das Gefühl, dass die Zeit drängte, und ich hatte auch nicht unseren Freund Konstantin vergessen. Es wäre nahe liegend gewesen, ihn zu kontaktieren, aber wir wussten nicht, wo er sich aufhielt. Er war unterwegs und wollte eine Person aufsuchen, die im Sterben lag.
Sicherlich eine Russin. Vielleicht würde uns die Botschaft da helfen können.
Auch Suko wollte keine Zeit mehr verlieren, und so kehrten wir so schnell wie möglich zu unserem Wagen zurück. Dort wartete auch Dora Young. Sie stand neben dem Rover und war erleichtert, als sie uns sah.
»Haben Sie Erfolg gehabt?«
»Wie man’s nimmt«, sagte Suko. Er berichtete davon, was wir im Sarkophag gefunden hatten.
Dora bekam große Augen. »Knochen und Staub?«
»Ja, was sonst? Leider wissen wir nicht, wer da begraben liegt, aber diese Person muss mit dem Todesengel zu tun gehabt haben.«
»Da kann ich auch nicht helfen.«
Uns drängte die Zeit. Wir gingen beide davon aus, dass die folgenden Stunden sehr wichtig werden würden. Wir wollten Dora an einer U-Bahn-Station absetzen und danach in unser Büro fahren. Ich rechnete fest damit, dass noch ein Joker namens Konstantin mit ins Spiel kommen würde, nur wusste ich nicht, wo er sich aufhielt, und das hinterließ bei mir ein verdammt ungutes Gefühl…
***
Der Pope hatte die Tür geöffnet. Es war noch immer die gleiche Welt, in die er hineinschaute, und trotzdem kam es ihm vor, als wäre es eine andere.
Es lag an Rusalka!
Sie war da!
Sie stand am Fußende des Bettes. Sie war auch kein Geist mehr, sondern hatte sich in eine Gestalt aus Fleisch und Blut verwandelt, wie es schien. Sie war nackt. Ihre Haut sah nicht unbedingt hell aus.
An manchen Stellen schimmerte sie dunkler, wie von einer grauen Farbe übermalt. Das schwarze Haar klebte auf ihrem Kopf. Es ließ das recht schmale Gesicht noch bleicher erscheinen.
Er zuckte zusammen, als er die leeren Augenhöhlen sah. Der Anblick war furchtbar. Er brauchte eine ganze Weile, ehe er den Schock überwunden hatte.
Sie sagte nichts.
Sie schien ihn mit ihren leeren Augenhöhlen anzustarren, und der Pope schaute zurück. Seine erste Überraschung war verflogen, und er wusste, dass es jetzt zu einer Entscheidung kommen musste.
Er spürte auch den kühlen Hauch, der gegen ihn wehte. Während er Rusalka anschaute, wollte ihm das Bild des toten Hausmädchens nicht aus dem Kopf, und er dachte daran, dass ihm das gleiche Schicksal bevorstehen würde, wenn es nach Rusalka ging.
Er dauerte schon seine Zeit, bis er den Blick von ihr lösen konnte und Anna anschaute.
Sie lag auf dem Rücken. Sie hatte ihre Hände unter der Decke hervorgeholt und gefaltet, als wollte sie ein letztes Gebet sprechen. So wie sie hätte auch eine Tote liegen können, nur traf das bei ihr nicht zu. Bei genauerem Hinschauen sah Konstantin, dass der Blick ihrer Augen noch nicht gebrochen war. Es steckte noch etwas Leben darin, auch wenn es kurz vor dem Erlöschen stand.
Eine Bewegung veränderte seine Blickrichtung wieder. Rusalka war einen lautlosen Schritt zur Seite gegangen und zeigte sich ihm jetzt aus einer anderen Perspektive.
Im Halbprofil waren auch die beiden filigranen Flügel zu sehen, die tatsächlich so aussahen, als bestünden sie aus einem dünnen, aber stabilen Drahtgeflecht.
Und zwischen diesen Drähten sah Konstantin auch das Schimmern, als hätte sich dort die Energie verdichtet, die in der Hölle geboren war und diesen Todesengel leitete.
Der Pope wusste genau, warum er gekommen war. Nach der ersten Überraschung dachte er wieder an seine Aufgabe. Auch wenn Anna eine schwerkranke Frau war, sollte sie einen normalen Tod erleiden und nicht durch die Macht des Engels sterben.
Er verließ seinen Standort. Das Zimmer war nicht groß, sodass er nur einen langen Schritt benötigte, um das Bett zu erreichen. In Kopfhöhe der Kranken blieb er stehen.
In seinem Innern verspürte er den Drang, all das herauszulassen, was ihn beschäftigte, und er hielt sich auch keine Sekunde
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