1441 - Der Seelenfluss
wird man mir gegenüber den Mund halten.«
»Und das vermutest du in diesem Fall?«
»Ich denke schon. Es gefällt mir zwar nicht, aber es ist leider so. Ich bin davon überzeugt, dass wir tief in die Mystik und Legenden meines Volkes hineinstochern müssen. Dass der Urgötze oder Urschamane Wu wieder verehrt wird, überrascht mich schon.«
»Hat man ihm denn früher Menschen geopfert?«
Suko nickte.
Ich schaute ihn schräg und mit hochgezogenen Brauen an.
»Ja, du hast richtig gehört«, sagte er. »Man opferte ihm junge Menschen. Dadurch wurden die Seelen der Ahnen verehrt.«
»Woher weißt du das?«
»Ich war mal im Kloster. Man hat mir dort ein bestimmtes Wissen beigebracht. Dazu gehörte die Beschäftigungen mit der mystischen Götterwelt. Es gab früher die Opferrituale. Man hat Knochen gefunden und sie auf das Ende der Steinzeit datiert. Zweitausend Jahre vor unserer Zeitrechnung. Auf diesen Knochen fand man Schriftzeichen. Es waren Orakel. Daher weiß man von diesen Opferritualen, die damals eben nur den Schamanen bekannt waren.«
»Dann müssen wir uns jetzt also auf die Rückkehr der Vergangenheit gefasst machen – oder?«
Suko lächelte knapp. »Zumindest hat man einen Versuch gestartet. Ich glaube schon daran, dass einige Frauen verschwunden sind. Auch wenn das offiziell nicht zugegeben wird. So etwas hält man immer unter der Hand. Ich selbst habe ja auch nichts gehört. Da musste schon dieser Paul kommen und uns davon berichten.«
Ich gönnte mir wieder einen Schluck Tee und kam auf unseren Informanten zu sprechen, »Mir wäre es jedenfalls lieb, wenn wir Kontakt zu ihm hätten«, sagte Suko. »Oder siehst du das anders?«
»Auf keinen Fall. Aber er wird sich aus dem Staub gemacht haben. Wahrscheinlich ahnte er, was auf uns zukommen würde. Und selbst mit den kleinen Drachen ist nicht zu spaßen.«
»Du sagst es. Die hätten uns zerrissen, John. Hast du ihre spitzen Zähne gesehen?«
»Nein. Dazu blieb mir nicht die Zeit. Aber ich kenne sie von anderen Monstern her.«
»Wie dem Ghoul, nicht?«
Suko spielte damit auf meinen letzten Fall an, den ich mit Jane Collins gemeinsam erlebt hatte. Dort hatten wir es nicht nur mit einem Ghoul zu tun gehabt, der die Halloween-Nacht unsicher machte, sondern auch mit dem Fotografen Ari Ariston, der praktisch nur Leichen fotografierte und mit diesen Bildern eine Ausstellung plante.
Der Ghoul war erledigt, der Fotograf und seine Assistentin hatten überlebt, und jetzt bekam ich es wieder mit kleinen Monstern zu tun. Zum Glück hatte Suko zwischen ihnen aufgeräumt.
Shao kehrte zurück und entschuldigte sich dafür, dass es so lange gedauert hatte. »Ich konnte das Riechsalz nicht finden. Aber jetzt habe ich es. Wenn es nicht klappt, müssen wir eben warten.«
Das Riechsalz befand sich in einer kleinen Flasche, deren Verschluss Shao bereits abgedreht hatte. Sie hielt das Gefäß dicht unter die Nase der regungslosen Chinesin und schwenkte es leicht hin und her.
Suko und ich schauten dabei zu.
Eine Weile tat sich nichts. Ich wollte mich schon enttäuscht abwenden, als die junge Frau einige Male zuckte und plötzlich die Augen öffnete. Ihr Blick traf Shaos Gesicht. Auch wenn es ihr fremd war, Shao gehörte zur gleichen Volksgruppe. Zu viel Angst konnte Shaos Anblick ihr deshalb wohl nicht einjagen.
Sie schaute, aber sie sagte nichts.
Shao nahm die Flasche weg und flüsterte ihr die ersten Worte zu.
»Du brauchst dich nicht mehr zu fürchten, meine Liebe. Es ist alles in bester Ordnung. Wir haben für deine Sicherheit gesorgt. Kannst du denn sprechen?«
Darauf waren auch Suko und ich gespannt. Wir traten näher an die Couch heran, aber die Unbekannte enttäuschte uns. Sie bewegte zwar die Lippen, nur hörten wir nicht, was sie sagte, denn was aus dem Spalt hervordrang, war mehr ein Zischen. Und kurz darauf schlief sie schon wieder, wie es uns schien.
»Pech«, sagte Suko.
»Gib ihr noch Zeit.«
»Okay, Shao.«
»Und lasst mich am besten mit ihr allein. Ich werde ihr erklären, dass sie sich keine Sorgen zu machen braucht, dass sie sich in Sicherheit befindet. Sobald sie in der Lage ist, etwas zu sagen, werde ich mich melden.«
»Hört sich nach einem eleganten Rauswurf an«, sagte Suko. »Wir können ins Nebenzimmer gehen und dort…«
Ich winkte ab. »Nein, ich mache mich davon. Ich werde in meiner Wohnung warten.«
»Kann ich dich auch wecken?«
»Wenn es sich lohnt, schon.«
Suko schlug mir auf die Schulter. »Bis gleich dann,
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