1449 - Der Knochentempel
das nächste Problem, Mr Sinclair. Für den normalen Menschen haben hier einfach nur Totenschädel gelegen, aber sie waren mehr als das. Mal davon abgesehen, dass sie ziemlich alt waren – ich schätze, mindestens hundert Jahre –, müssen sie für diejenigen, die sie geraubt haben, von besonderer Bedeutung gewesen sein.«
»Die Sie kennen?«
»Ich glaube nicht, Mr Sinclair.«
Das ließ ich erst mal so stehen. Die Antwort auf meine nächste Frage interessierte mich mehr. »Können Sie mir sagen, wer alles von diesen Schädeln wusste?«
»Nur wenige.«
»Wie der Küster.«
»Ja.«
»Und wer noch?«
»Ich wusste auch davon. Und ich gehe davon aus, dass es auch den Pfarrern bekannt war, die hier im Laufe der Jahre ihren Dienst verrichtet haben.«
Das war für mich nachvollziehbar. Es ging mir nicht nur um den Inhalt, sondern auch um das Beinhaus selbst. Auf meine Fragen erfuhr ich, dass es recht alt war. Man sprach von zweihundert Jahren, doch genaue Zeiten konnten nicht angegeben werden.
»Gehen Sie davon aus, dass die Schädel ebenfalls so alt waren?«
Ampitius runzelte die Stirn. »Sie stellen eine Frage, die nicht leicht zu beantworten ist. Ich glaube nicht, dass sie so alt sind. Wie gesagt, ich schätze sie auf etwa hundert Jahre.«
»Und Sie kennen die Schädel?«
»Ja, ich betrete das Beinhaus nicht zum ersten Mal. Ich kenne sie, aber ich weiß nicht, wer sie hier aufbewahrt hat. Oder hineingestellt. Mir ist auch nicht bekannt, ob sie alle auf einmal ins Beinhaus gebracht wurden oder ob zeitliche Zwischenräume…«
Ich ließ ihn nicht ausreden. »Wie hoch war ihre Zahl?«
Ampitius schaute zu Boden. »Das kann ich Ihnen nicht genau sagen, Mr Sinclair.«
»Aber Sie waren doch hier drin.«
»Ja. Nur habe ich die Totenschädel nicht gezählt. Ich sah keinen Grund dafür. Außerdem war ich nur einmal hier. Warum hätte ich jeden zweiten Tag nachschauen und sie zählen sollen? Sie taten ja nichts. Sie lagen einfach nur da. Das war alles.«
»Und jetzt sind sie weg.«
»Genau.«
Ich schaute in die leere Nische, überlegte und konnte mir keine Antwort aus den Rippen saugen. Dafür kam mir etwas anderes in den Sinn, und ich hielt damit nicht hinter dem Berg.
»Warum sind Sie denn gerade heute in dieses Beinhaus gegangen, Mr Ampitius?«
Die Antwort erfolgte spontan. »Das wollte ich gar nicht. Ich habe nur einen Spaziergang unternommen. Als ich hier vorbei kam, da fiel mir auf, dass der Eingang nicht mehr verschlossen war. Man hatte ihn aufgebrochen. Es gibt keinen zweiten Schlüssel. Den einzigen besitze ich. Also musste man, um an die Schädel heranzukommen, die Tür aufbrechen. So und nicht anders ist es gewesen.«
»Ja, ich verstehe«, murmelte ich. »Das ist eine einleuchtende Erklärung.«
»Dann sah ich, was passiert war. Ich schaute auf den toten Küster. Ich war völlig von der Rolle. Ich sah mich um und entdeckte auch diese leere Nische. Da wusste ich Bescheid, Mr Sinclair. Es hatte einen Einbruch mit Folgen gegeben. Für die Diebe muss die Beute so wichtig gewesen sein, dass sie selbst vor einem Mord nicht zurückschreckten. Bevor ich die normale Polizei anrief, habe ich mich lieber mit Ihnen in Verbindung gesetzt.«
»Das war in diesem Fall sogar richtig.«
»Glauben Sie denn, dass die Spurensicherung etwas herausfindet, was auf die Diebe hindeutet?«
»Das ist möglich. Allerdings glaube ich, dass der oder die Mörder so schlau waren, keine Spuren zu hinterlassen.«
Ampitius nickte. »Aber wer könnte dahinter stecken? Haben Sie sich darüber schon mal Gedanken gemacht?«
Ich zuckte mit den Schultern.
»Satanisten vielleicht?«, fragte Ampitius.
Daran hatte ich auch schon gedacht. Allerdings ging meine Vermutung in eine andere Richtung.
»Sie glauben nicht daran, wie?« Der ehemalige Bischof glaubte, es aus meinem Schweigen herausgehört zu haben.
»Stimmt. Satanisten arbeiten im Geheimen. Sie wollen nicht entdeckt werden, und sie sind Menschen, denen es nur auf die Schädel ankommt. Auf mehr nicht.«
»Aber das waren sie doch!« Er deutete auf die leere Nische.
»Ja, das waren Totenschädel. Nur bin ich nicht der Meinung, dass diese Schädel – einer wie der andere – etwas besonderes sind. Verstehen Sie?«
»Fällt mir schwer.«
»Gut, ich will es anders formulieren. Die Köpfe dieser Toten könnten eine besondere Bedeutung gehabt haben. Das ist jahrelang verborgen geblieben, aber jemand hat sich wieder daran erinnert. So sehe ich den Fall im Moment.«
Er nickte.
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