1450 - Insel der Vampire
zwischen den Fronten.«
»Du sagst es.«
Der Abend war noch nicht gelaufen. Suko machte den Vorschlag, bei Shao und ihm eine Kleinigkeit aus dem Wok zu essen.
»Dagegen habe ich natürlich nichts einzuwenden.«
Shao sah unseren Gesichtern an, dass etwas passiert war, was ihr nicht besonders gefallen konnte.
»Ärger?«, fragte sie.
»Es geht«, meinte Suko. »Zunächst freuen wir uns auf ein Essen aus deinem Wok.«
Shao hatte heute ihren sarkastischen Tag. »Ah, so etwas wie eine Henkersmahlzeit.«
»Bestimmt nicht«, sagte ich. »Dann würde der Drink, den ich dazu nehme, der letzte in meinem Leben sein.«
»Kann man es wissen?«, fragte Shao.
»Aber ich weiß auch, dass Unkraut nicht so leicht vergeht.«
Nach diesen Worten verschwand sie in der Küche…
***
Der Eingang der Höhle sah aus wie das Loch einer gewaltigen Röhre, die man in einen Hang getrieben hatte. Die Höhle stellte ein ideales Versteck dar. Von ihrem Eingang fiel der Blick nicht nur über den Strand hinweg, nein, er reichte auch bis zum Horizont des weiten Meeres.
Ein Augenpaar starrte auf das wogende Wasser. Es gehörte einer Frau, die sich im Eingang der Höhle niedergelassen hatte. Wer je von den Sirenen gehört und gelesen hatte, die Odysseus in ihr Inselreich locken wollten, der hätte sie sich sicher so vorgestellt wie diese Person.
Lange schwarze Haare, die bis über die Schultern reichten. Ein gut gebauter Körper mit festen Brüsten. Ein Gesicht, das den klassischen Schnitt mit der leicht gebogenen Nase zeigte, das weiche Kinn unter den vollen Lippen, und ein Augenpaar, in dessen dunklen Pupillen die Verheißung glänzte und jeden aufrechten Mann vom Pfad der Tugend abbringen konnte.
Nicht grundlos hatten sich Odysseus und seine Gefährten an die Masten ihrer Schiffe gebunden und ihre Ohren verstopft, um den Gesang der Sirenen nicht hören zu müssen.
Diese Frau sang nicht. Sie war auch keine Sirene, sondern jemand, die über ihren nackten Körper ein rotes Kleid gestreift hatte, das sehr eng anlag und knapp unterhalb der Pobacken endete.
Es war ihr Outfit, und Rosanna fühlte sich sehr wohl darin. Ihr gehörte die Insel, sie war die Herrin, und das bereits seit sehr, sehr langer Zeit. Die Schöne, die allein lebte, die so lange begraben und doch nicht gealtert war, weil ihr das Schicksal nach einem leichten Erdbeben auf der Insel die Freiheit zurückgegeben hatte und sie sich wieder daran laben konnte, was für sie schon immer sehr wichtig gewesen war.
Blut!
Das Blut eines Menschen. Dieser wunderbare Saft, der ihr die Kraft gab, weiterhin zu existieren. Und Rosanna hatte sich vorgenommen, ewig zu leben.
Lange konnte sie den Hunger aushalten. Wenn nötig, über Jahre hinweg. Das hatte sie auch notgedrungen getan, denn diese Insel gehörte zu den vergessenen Flecken mitten im Meer.
Und doch war sie nicht ganz vergessen.
Es war Besuch gekommen. Zwei Männer, die sich hier eingerichtet hatten. Rosanna wusste nicht, warum sie die Insel betreten hatten, aber sie waren nicht auf der Jagd nach ihr gewesen. Sie hatten sie auch gar nicht gesehen, und Rosanna hatte sich dann den ersten vorgenommen und ihn ausgesaugt. Für sie war es ein Fest gewesen, das herrliche Blut nach einer so langen Zeit zu trinken, zu schlürfen und zu schmecken. Was gab es denn Besseres in ihrem Leben?
Nichts, gar nichts.
Nur das Blut, das so warm in sie hineingeströmt war. Den zweiten Mann hatte sie ebenfalls leer saugen wollen. Doch sie war bereits zu satt und damit auch zu träge gewesen. Sie hatte ihn nur kurz anfallen und beißen können, dann war er ihr nicht nur entkommen, er hatte auch die Flucht von der Insel geschafft, sodass Rosanna auf weitere Nahrung hatte verzichten müssen.
Aber sie war nicht mehr allein auf der Insel. Sie hatte jetzt einen Gefährten, den es ebenfalls danach dürstete, das Blut eines Menschen zu trinken, obwohl es auf diesem Stück Erde keinen mehr gab.
Und Tiere hatten sich hier auch nicht angesiedelt. Um an frische Nahrung zu kommen, mussten sie die Insel verlassen und sich unter Menschen begeben – oder darauf warten, dass es wieder Opfer in diese Einsamkeit verschlug.
Ganz auszuschließen war das nicht, denn Rosanna hatte hin und wieder in der Nacht die Positionsleuchten einiger Schiffe gesehen, die das Meer durchpflügten.
Sie setzte darauf, dass irgendwann ein Sturm toben würde, der ein Schiff packte und es gegen das Ufer der Insel schleuderte. Ein Schiff mit einer Mannschaft, die überlebte. Dann –
Weitere Kostenlose Bücher