1455 - Das Gewissen des Henkers
erlebt.
»Ich möchte wirklich nicht mehr lange warten«, erklärte der Henker im Plauderton.
»Ja, es ist gut.« Morrow nickte. Er hatte dabei das Gefühl, sein Kopf wäre doppelt so schwer geworden.
»Das freut mich. Also…?«
»Was soll ich denn sagen? Was willst du hören?«
»Nur ein, zwei Sätze.«
Morrow konnte es nicht glauben. Da fehlte ihm jegliches Verständnis. Er hatte sich nie Gedanken über seine Herkunft und seine Ahnen gemacht. Außerdem lag alles viel zu weit zurück.
Er griff nach dem Glas und trank auch den letzten Schluck Champagner, der mittlerweile warm geworden war.
Er schaffte es nicht, das leere Glas auf den Tisch zurückzustellen, denn es rutschte ihm aus der Hand. Das dünne Glas zerbrach auf dem Boden. Aber er überwand sich und sagte den so wichtigen Satz.
»Ja, ich verzeihe dir!«
»Aus vollem Herzen?«
Morrow nickte.
»Das reicht nicht«, flüsterte der Henker. »Ich will es laut und deutlich hören. Zudem muss ich einfach spüren, dass du mir keine Lüge unterschieben willst.«
»Ich verzeihe dir aus vollem Herzen, Henker. Ich möchte, dass du endlich deinen Frieden findest.«
Lincoln Lester stöhnte auf. »Das war ein Satz«, flüsterte er. »Einfach wunderbar. Wie lange habe ich darauf gewartet! Endlich ist er ausgesprochen worden. Danke, ich danke dir, Vic.«
Der Wettpate begriff gar nichts mehr. Er war wie vor den Kopf geschlagen. Er wusste nicht, ob mit diesen schlichten Sätzen alles erledigt war, die jeder hätte aussprechen können. Vor der nächsten Frage fürchtete er sich, aber stellte sie trotzdem. »Ist denn jetzt alles vorbei?«
Der Henker schaute ihn aus seinen roten Augen an. »Ja, Vic, eigentlich hätte jetzt alles vorbei sein müssen, aber ich fürchte, dass ich dir da nicht mehr zustimmen kann.«
Vic zuckte zusammen. »Warum nicht?«
»Du hast mir zwar verziehen, was ich großartig finde, aber zuvor hast du mich töten wollen.« Der Henker verzog das faltige Gesicht.
Es sah jetzt traurig aus. »Das hätte ich nicht von dir gedacht. Die anderen haben mir sofort verziehen. Sie haben auch nicht daran gedacht, mich umbringen zu lassen. Du allerdings hast anders reagiert, und so etwas kann ich nicht auf mir sitzen lassen. Ich war so ehrlich zu dir. Bist du es denn zu mir gewesen?«
Morrow wusste, dass ihm eine Antwort auf diese Frage schwer fallen würde. Egal, was er sagte, der Henker würde ihm nicht mehr glauben, und deshalb schwieg er.
»Du warst unehrlich, Vic.«
»Aber ich…«
»Kein Aber mehr.«
Morrow wusste, was die letzte Antwort zu bedeuten hatte. Er änderte seine Blickrichtung und schaute zu seinen drei Bodyguards hin. Angeblich waren es Männer, die weder Tod noch Teufel fürchteten. In diesem Fall jedoch waren sie nicht mehr im Geschehen, und er würde von ihnen keine Hilfe erwarten können.
»So ist das nun mal, Vic.«
»Was bedeutet das?«
»Ich werde mich verabschieden. Die Last ist mir genommen worden. Aber ich muss dich bestrafen, und deshalb werde ich dir hier auf der Couch den Kopf abschlagen.«
Jetzt war es heraus, und Morrow konnte nicht behaupten, dass er sonderlich überrascht war. Er suchte verzweifelt nach einer Möglichkeit, aus dieser lebensbedrohlichen Lage wieder herauszukommen, doch er sah sie nicht.
Der Henker hob sein Beil an und streckte es etwas nach vorn. Die Klinge wies in Morrows Richtung. Wenn sie geschlagen würde, dann traf sie seinen Hals, und sie war scharf genug, um ihm mit einem Schlag den Kopf vom Rumpf zu trennen.
»Für jeden ist das Schicksal vorbestimmt, Vic. Du bist am Ende deines Weges angekommen. Ich weiß nicht, wo du später sein wirst, aber vielleicht wartet der Teufel auch schon auf dich.«
»Oder auf dich!«, rief plötzlich eine helle Frauenstimme…
***
Wir hatten Fiona nicht gern als Erste geben lassen, aber sie wollte es so und hatte ihren Willen durchgesetzt. Außerdem war sie eine Nachkommin des Henkers, und so hatten wir schließlich nachgegeben.
Wir waren in den Raum geschlichen und hatten den Dialog mitbekommen. So wussten wir auch, dass es höchste Zeit mit unserem Eingreifen war.
Fiona Lesters Worte hatten die Lage völlig verändert. Da die Rückenlehne der Couch sehr hoch ragte, hatten wir von den beiden Sitzenden nichts gesehen. Das änderte sich schlagartig, denn der Henker schob sich in die Höhe.
Fiona blieb stehen. Hätte sie den Arm ausgestreckt, sie hätte die Rückenlehne erreichen können. Sie schaute dem Henker in die roten Augen.
»Du hast doch
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