1458 - Die Mordkapelle
sie auch überrascht. Sie hat sogar von unterwegs aus angerufen. Da sie kein Auto besitzt, muss sie in den Bus gestiegen sein, um zum nächsten Bahnhof zu fahren. Das habe ich mir ausgedacht.«
»Glauben Sie denn an ihr Verschwinden?«
Wilma Lansbury legte den Kopf schief. »Nein, wenn ich ehrlich sein soll. Daran glaube ich nicht.«
»Sondern?«
Sie brauchte Zeit für eine Antwort und trank zunächst einen Schluck Tee. »Ich weiß nicht, was ich glauben soll. Ehrlich nicht. Es ist alles sehr seltsam. Hier ist etwas passiert, das ich nicht nach vollziehen kann, obwohl ich eine Zeugin war und Vanessa auf dem Friedhof gesehen habe…«
»Pardon, Mrs Lansbury«, unterbrach ich sie. »Können Sie uns die junge Frau beschreiben?«
»Ja, das kann ich. Schließlich habe ich lange genug vor ihr gestanden.« Sie gab uns eine Beschreibung, die sie gar nicht erst beenden musste, denn nach zwei Sätzen wussten wir Bescheid.
»Trug Vanessa einen Jogginganzug?«
Wilma Lansbury schaute mich überrascht an. »Woher wissen Sie das, Mr Sinclair? Ich habe es Ihnen nicht gesagt.«
»Das stimmt.«
»Aber wie kommen Sie darauf?«, flüstert sie und war schon ein wenig verunsichert.
»Weil wir sie wahrscheinlich gesehen haben«, erklärte Bill.
»Und wo?«
»Am Ende von Hopewell. Wir haben Sie von dort angerufen.«
»Sogar mit ihrem Bike«, fügte ich hinzu.
Die Frau schwieg. Kleine Schweißtropfen erschienen auf ihrer Stirn, als sie nickte. »Ja«, flüsterte sie. »Ja, dann ist sie wohl doch nicht verschwunden.«
»Das sehen wir auch so.«
»Was könnte sie noch hier im Ort gehalten haben?«, fragte Bill.
»Können Sie sich einen Grund vorstellen?«
Sie hob die Schultern. »Ich weiß nicht.« Sie lachte unecht auf. »Ich glaube nicht, dass sie wegen der Toten hier geblieben ist, mit denen sie anscheinend sprechen kann. Da hat sie in London doch viel mehr Möglichkeiten.«
»Stimmt«, sagte ich.
»Warum ist sie dann noch hier?«
»Diese Frage können wir Ihnen noch nicht beantworten, Mrs Lansbury«, sagte Bill. »Ich denke, dass wir mit ihren Verwandten sprechen müssen. Was meinen Sie?«
»Ja, das wäre nicht schlecht.«
»Haben Sie denn den beiden von Ihrer Begegnung mit ihrer Nichte auf dem Friedhof berichtet?«
Ihre Arme schnellten hoch. »Nein, wo denken Sie hin? Ich wollte mich nicht lächerlich machen. Ich habe mit keinem darüber gesprochen, abgesehen von den Leuten der Zeitung. Die sind doch immer an solchen Dingen interessiert.«
Bill lächelte. »Deshalb sind wir ja hier.«
»Und Sie glauben mir auch?«
»Sonst wären wir schon wieder weg.«
»Danke.«
»Aber wir sollten uns mal näher mit den Blairs beschäftigen und sie nach ihrer Nichte befragen«, schlug ich vor. »Was sind das für Menschen?«
»Ganz normale, Mr Sinclair. Sie haben nur mit den Lebenden zu tun und nichts mit den Toten.«
»Das beruhigt mich.«
»Robert Blair ist Schneider von Beruf. Er besitzt hier einen kleinen Laden. Die Menschen hier kaufen sich selten Neues, sondern gehen zu ihm, wenn etwas gekürzt oder verlängert oder geändert werden muss.«
»Das ist interessant.« Bill grinste mich an. »Deine Hemden brauchen auch bald eine andere Kragenweite.«
»Meinst du, weil ich zugenommen habe?«
»Hast du das?«
»Hör auf.« Wir wurden wieder ernst und erkundigten uns, wo wir den Schneiderladen finden konnten.
»In der Ortsmitte. Über der Eingangstür hängt ein Schild mit einer gelben Schere darauf.«
»Das haben wir bei der Herfahrt gesehen«, sagte Bill.
»Dann können Sie es ja nicht verfehlen.«
Wir erhoben uns und versprachen, Wilma Lansbury auf dem Laufenden zu halten.
Vor dem Porsche blieben wir stehen. Bill schaute mir ins Gesicht.
»Was hältst du von der Sache?«
Ich zuckte mit den Schultern. »Mittlerweile bin ich der Meinung, dass wir die Reise nicht umsonst gemacht haben.«
»Das denke ich auch. So ruhig das Kaff hier ist, ich traue dem Frieden nicht.«
Damit sollte Bill leider Recht behalten…
***
Diesmal parkten wir direkt vor dem Haus, in dem sich die Schneiderei befand. Es gab tatsächlich das Schild mit der gelben Schere darauf und ein Schaufenster, das mit einigen Stoffen dekoriert war, aber auch mit einer alten Puppe, der ein Kostüm übergestreift worden war. Das alles wirkte auf uns ein wenig muffig.
Aber ein solcher Laden passte in diese Gegend.
Ohne eine Stufe überwinden zu müssen, konnten wir den Laden betreten. Über dem Laden gab es noch eine Etage, und dort sahen wir zwei
Weitere Kostenlose Bücher