1468 - Tanz im Totenreich
alles gesehen, ohne es richtig begreifen zu können. Seine Schwester Marietta lag auf dem Boden, was für ihn kein Phänomen war, weil die Kugeln sie dorthin geschleudert hatten. Etwas anderes fiel ihm auf, und das brachte ihn völlig durcheinander.
Es gab kein Blut zu sehen!
Normalerweise hätte es aus den Wunden spritzen müssen, weil auch Adern getroffen und aufgerissen worden waren. Doch das war nicht der Fall.
Marietta lag auf dem Boden, als hätte sie diesen Platz nur gewählt, um sich auszuruhen.
Ein Toter kann wohl schießen. Aber er kann keine Tote erschießen.
Marietta bewegte sich nicht. Sie blieb liegen, als wollte sie erst mal abwarten, was passierte.
Der Killer ging auf sie zu. Er redete nicht dabei. Wahrscheinlich hatte er sich die Dinge anders vorgestellt, obwohl Marietta keinerlei Anstalten traf, etwas zu unternehmen.
Neben ihr blieb er stehen. Die Mündung der Waffe wies auf ihren Körper, bei dem auch keine Einschusslöcher zu sehen waren, die befanden sich woanders.
Im Fußboden, auch in der Wand. Die Kugeln hatte den Körper zwar getroffen, waren aber durch ihn hindurchgejagt, und das war für Tom Abel ein weiteres Phänomen.
Er begriff es nicht. Er begriff vieles nicht, und er musste akzeptieren, dass seine Schwester anfing zu lachen, bevor sie die Beine anzog und Anstalten traf, sich zu erheben.
Sie ging zuerst in die Hocke. Danach schob sie ihren Körper in die Höhe und blieb vor ihrem Mörder stehen.
»Du schaffst es nicht, Walcott. Wir sind zu gleich. Wer kann einen Toten noch einmal töten?«
»Ich! Nur ein Töter!«
»Ach, hör auf. Nicht mit Waffen. Vergiss es. Ich hätte gern gesagt, geh zurück in deine Welt, lass dich vom Satan taufen, aber das werde ich jetzt nicht mehr tun, denn du hast hier Scherben hinterlassen. Du hast Menschen unglücklich gemacht, du hast getötet. Es ist mein Bruder gewesen, bei dem du keine Gnade bekannt hast, und so werde auch ich bei dir keine Gnade kennen. Ich werde dich vernichten!«
Marietta tat nichts. Sie sprach nur, dann drehte sie sich um und ging weg. Im Haus hatte sie nichts mehr zu suchen, und sie verließ es durch die offene Terrassentür.
Der Killer blieb noch stehen, und in Tom Abel stieg wieder die Angst hoch. Er war unbewaffnet, Walcott nicht. Er würde sich an ihn wenden und ihm eine Kugelgarbe…
Walcott tat es nicht. Er hatte Mariettas Drohung nicht vergessen.
Vor Wut schrie er auf, und dann hielt ihn nichts mehr. Er rannte hinter der Toten her, die gar nicht mal schnell ging. Sie schlenderte und tanzte über die blühende Sommerwiese hinweg wie jemand, der sich an der bunten Vielfalt der Blumen erfreute.
Tom schaute ihr nach.
War das der endgültige Abschied?
Er konnte es nicht richtig glauben, aber er musste hinnehmen, was da geschah.
Seine Schwester lief tanzend weiter, doch bei jedem Schritt, den sie sich vom Haus entfernte, veränderte sich ihre Gestalt. Sie löste sich auf, wirkte bald fast wie aus Glas, während ihre menschlichen Umrisse in der herrlichen Sommerluft zirkulierten und plötzlich verschwunden waren.
Tom stand auf der Stelle und schaffte es nicht, den Mund zu schließen. Was er gesehen hatte, empfand er als unmöglich, aber er hatte sich nicht geirrt.
Es gab Marietta nicht mehr. Sie war wieder zurück ins Reich der Toten gekehrt.
Und Walcott?
Er lief nicht mehr weiter. Aber er wurde auch nicht allein gelassen, denn etwas Dunkles näherte sich ihm. Woher es gekommen war, hatte Tom nicht sehen können. Es war jedenfalls vorhanden, und als es Walcott umfing wie ein Vorhang, war er innerhalb weniger Augenblicke wie vom Erdboden verschwunden.
Tom Abel begriff das alles nicht. Er fühlte sich plötzlich so schwach, dass er sich nicht mehr auf den Beinen halten konnte. Zum Glück stand ein Sessel in der Nähe, in den er sich hineinfallen ließ und die Hände vor sein Gesicht schlug…
***
Ob wir alles richtig gemacht hatten, wussten wir nicht. Normalerweise hätten wir Marietta aufhalten müssen, aber war es möglich, eine Tote zu stoppen?
Bestimmt nicht. Hinzu kam, dass sie sich an uns gewandt hatte, weil sie Hilfe brauchte, und die wollten wir ihr auf keinen Fall verwehren.
Es war jedenfalls wichtig für uns, dort zu sein, wo sich das Finale des Dramas abspielen würde. Denn dass uns Marietta mit falschen Informationen versorgt hatte, das glaubten weder Suko noch ich.
Mein Freund fuhr. So konnte ich mich mit den eigenen Gedanken beschäftigen. Ich fragte mich, warum Raniel nicht eingriff. Es
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