1469 - Der Köpfer holt sie alle!
Menschen brauchten nicht zu wissen, was mit ihr geschehen war.
Der Pfarrer hinter der grauen Altarplatte schlug ein Buch auf und wandte sich wieder an die Versammelten.
»Lasst uns gemeinsam ein letztes Gebet für die Verstorbene sprechen, die das grausame Schicksal so brutal aus unserer Mitte gerissen hat. Ich werde vorbeten und…«
Was er noch sagte, hörte Marietta nicht, weil das Schluchzen zu laut wurde. Sie stand weiterhin in ihrem hellen Kleid in der Nische und schaute nach vorn.
Aber sie sah nicht nur den Pfarrer, ihre Eltern und die Freunde. Sie nahm eine Bewegung wahr, die sich an der rechten Innenwand der Kirche entlang schob.
Ein Schatten?
Ja, aber keiner, der vom Licht der wenigen Kerzenflammen produziert wurde. Dieser Schatten war das, was auch Marietta war. Ein feinstoffliches Wesen, ein Killer, der sich längst in der Hölle hätte befinden müssen.
Er war es nicht. Die Hölle hatte ihn umgeleitet und ihn auf einem ähnlichen Weg zurückgebracht wie die andere Seite Marietta.
Plötzlich war alles anders.
Sie spürte eine Kälte, die nicht aus den Wänden drang. Der Andere hatte sie mitgebracht. Es war in gewisser Hinsicht die Kälte seiner Seele, denn sie war abgrundtief böse. Es gab nichts Positives mehr an ihm, und dieses Böse war in die Kirche eingedrungen, ohne dass es durch irgendetwas hätte aufgehalten werden können.
Angst um die Versammelten stieg in Marietta auf. Auch in ihrem Zustand erlebte sie die Gefühle deutlich. Vielleicht sogar noch stärker als zu ihrer menschlichen Zeit.
Ob Walcott seine Maschinenpistole mitgebracht hatte, war für sie nicht zu erkennen. Rechnen musste sie damit, und sie merkte, wie sich bei ihr etwas veränderte.
Sie wollte keine Toten. Sie wollte, dass dieser irre Mörder endgültig und für alle Zeiten ausgelöscht wurde.
Er bewegte sich weiter, und dabei war kein Laut zu hören. Er nutzte seine Beschaffenheit eiskalt aus, und bevor sich Marietta versah und eine Entscheidung treffen konnte, da befand er sich bereits in Höhe des Altars.
Abgesehen von Marietta hatte ihn bisher niemand gesehen. Wie auch, denn die Menschen waren mit sich selbst und ihrer Trauer beschäftigt.
Der Geistliche betete noch immer vor. Er sprach mit halblauter Stimme und war trotzdem gut zu verstehen. Sein Thema war nicht die Verdammnis, sondern das neue, das wahre Leben, das sich dem irdischen anschloss. Daran sollten auch die Zurückgebliebenen denken.
»Und so wird uns unsere Mitschwester Marietta Abel stets in Erinnerung bleiben. Als ein Mensch, der das Leben liebte, der keinem etwas Böses wollte, der jedoch nicht daran gedacht hatte, dass dieses Böse auch existiert. Sie hat den ewigen Frieden gefunden…«
»Hat sie nicht!«
Die Stimme war da, sie war laut genug, um von jedem verstanden zu werden, und sie war hinter dem Pfarrer aufgeklungen, der ebenso starr auf dem Fleck stand, wie die anderen Menschen in der Kirche auf ihren Stühlen saßen.
Keiner wagte auch nur ein Wort zu sagen, und die Situation nutzte Walcott aus, um laut zu lachen. Erst danach fing er wieder an zu sprechen.
»Glaubt ihr Idioten denn, dass alles vorbei ist? Nein, nichts ist vorbei. Es geht weiter, und es wird nach meinen Regeln gespielt…«
***
Es gab keinen, der die Worte nicht gehört hatte. Und jeder sah den Sprecher, der es nicht mehr für nötig hielt, sich zu verstecken. Er tauchte hinter dem Altar auf und ging so weit vor, bis er seine Breitseite erreicht hatte. Erst dort blieb er stehen.
Er hob seine Waffe so weit an, dass jeder sie sehen konnte. Da neben dem Altar auf zwei hüfthohen Ständern brennende Kerzen standen, fiel ihr Flackerlicht nicht mehr nur gegen die Gestalt des Geistlichen, sondern erreichte auch den neuen Gast, auf dessen Körper sich ein unruhiges Flackern ausbreitete.
Er sagte nichts. Er wollte einfach nur die Wirkung seiner Worte spüren.
Allmählich begriffen die Menschen, wen sie vor sich hatten. Der Schock lähmte sie nicht mehr. Obwohl der Bewaffnete nicht im hellen Licht eines Scheinwerfers stand, sahen sie sehr deutlich, um wen es sich handelte. Das Bild des Amokläufers war oft genug in der Zeitung abgebildet worden, so hatte es noch jeder in Erinnerung.
Eine Frau sprach den Namen aus. »Das ist Walcott…«
Sie hatte nur geflüstert, und als darauf niemand reagierte, brach es aus ihr hervor.
»Ja, es ist Walcott, der Killer, den die Polizisten erschossen haben! Und jetzt ist er hier! Schaut ihn euch an! Er ist es und kein anderer!«
Auch
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