1478 - Tiefsee-Schrecken
Ghouls gab, und innerlich stellte ich mich schon darauf ein, dass mir ein solches Wesen begegnen würde.
Als ich daran dachte, schaute ich über die Heckreling hinweg in das Wasser und entdeckte plötzlich einen helleren Gegenstand, der im Wasser trieb. Und er war dabei, an die Oberfläche zu steigen.
Ich sagte Orson Keene nichts. Der Farbe nach konnte der Gegenstand durchaus ein Knochen sein. Ich wartete gespannt ab, bis er zum Greifen nahe war und griff dann zu. Dabei hatte ich zwischen die senkrechten Stäbe der Reling gefasst. Das Glück stand mir zur Seite. Schon beim ersten Griff bekam ich das Fundstück zwischen die Finger.
Ja, es war ein Knochen. Ein Stück Gebein, das an die Oberfläche geschwemmt worden war. Halbrund, sodass ich es als einen Rippenknochen identifizierte. Der Knochen war nicht schwer, doch er war sehr glatt. Ich musste Acht geben, dass er mir nicht aus den Fingern rutschte. Mit ihm in der Hand drehte ich mich zu Keene um.
Ihm war schon aufgefallen, dass ich durch die Reling gegriffen hatte. Und als er jetzt den Knochen in meiner rechten Hand sah, weiteten sich seine Augen.
»Das gibt es doch nicht«, flüsterte er.
»Doch, sehen Sie?« Ich hielt ihm mein Fundstück entgegen.
Keene deutete über Bord. »Dann haben Sie ihn aus dem Meer geholt, nicht wahr?«
»Sicher.«
Orson Keene schloss die Augen und legte seinen Kopf in den Nacken. Er stieß mit einem scharfen Laut die Luft aus. »Irgendwie bin ich jetzt erleichtert«, erklärte er. »Ich habe schon das Gefühl gehabt, dass alles an mir hängen bleibt. Und als ich mit diesem rothaarigen Sergeant sprach, da hatte ich den Eindruck, ein Angeklagter zu sein. Er schien mir nicht geglaubt zu haben. Dabei hätte ich ihm das Fundstück gar nicht zu zeigen brauchen.«
Ich legte den Rippenknochen auf den Boden. Beim Aufrichten sagte ich: »Wo ein Knochen ist, können sich auch mehrere befinden. Allmählich kommt wohl alles hoch. Ich kann mir gut vorstellen, dass einige der Fundstücke bereits in Richtung Ufer treiben.«
»Sollen wir hier dümpeln und die aufsteigenden Knochen einsammeln?«
»Das könnte sogar passieren. Aber ich denke auch noch an andere Dinge.«
»Sie meinen die Nackte.«
»Genau. Und die Fratze, Orson.«
Keene wischte über sein Gesicht. »Es ist ja alles unglaublich, das weiß ich selbst. Aber die Nackte habe ich tatsächlich gesehen. Kein Witz. Und mir ist noch etwas aufgefallen, von dem ich Ihnen noch nichts erzählt habe, John.«
»Was denn?«
Keene tat so, als wollte er zurücktreten. »Aber bitte, John, lachen Sie mich nicht aus.«
»Wie käme ich dazu.«
»Folgendes: Ich hatte das Gefühl, dass diese gesamte Szene, obwohl sie für mich deutlich sichtbar war, noch im Wasser schwamm. Glauben Sie mir, die nackte Frau, die Knochen, die Grabsteine, die Fratze, sie sind trotzdem noch unter Wasser gewesen.«
»Und woher wissen Sie das?«
»Weil Fische um sie herum schwammen, ganz einfach. Ja, ich sah die kleinen Dinger um sie herum schwimmen. Und jetzt sagen Sie nicht, dass dies normal ist.«
»Nein, hier ist nichts mehr normal.«
»Eben.«
Ich hatte zunächst mal Probleme, mit dieser neuen Information zurechtzukommen. Wenn wirklich alles zutraf und sich Orson Keene nicht geirrt hatte, dann war es durchaus möglich, dass die Insel in einer riesigen Wasserblase an die Oberfläche gestiegen war. Und mit ihr dieses schreckliche Gesicht.
»Das kann uns nicht eben fröhlich machen – oder?«
»Sie sagen es.«
»Mir fiel es leider zu spät ein.« Er trat an die Reling und schaute aufs Wasser.
Nichts störte mehr die Bewegungen der Wellen. Unser Boot dümpelte fast an der gleichen Stelle. Wir erlebten auch keinen Angriff, aber es passierte trotzdem etwas.
Das Boot fing an zu schaukeln – anders zu schaukeln. Als wäre es mit einem Gewicht beschwert worden.
Ich merkte es zuerst und wollte Orson Keene darauf aufmerksam machen, als er ebenfalls erstarrte und große Augen bekam.
»Was ist das?«
»Jemand hat sich ans Boot gehängt, und das ist bestimmt kein Skelett, mein Lieber.«
Ich wusste plötzlich Bescheid, denn unser Boot krängte zum Bug hin, weil dort das Gewicht zu hängen schien.
Ich schaute über den Führerstand hinweg, sah noch nichts, lief halb an ihm vorbei und blieb dann abrupt stehen.
Aus dem Wasser hatten sich zwei Hände und zwei Arme geschoben. Es waren Frauenhände, aber sehr kraftvoll, und wenig später zog sich der nackten Körper in die Höhe…
***
Das Leben steckt doch immer
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