1478 - Tiefsee-Schrecken
Er glitt auf den Hafen von Dundee zu. So wie er fuhr, schien er über den Wellen zu schweben.
Orson Keene hatte sein Fernglas mitgenommen. Es hing vor meiner Brust. Ein zweites Glas war nicht vorhanden. Das hatten wir leider vergessen.
Da es Keene Spaß machte, drehte er noch mal auf. Ich konnte mich soeben noch festhalten, bevor sich unser Boot in einen wahren Wellenflitzer verwandelte.
Orson stieß einen Freudenschrei aus. Doch bevor er die Geschwindigkeit richtig genießen konnte, verloren wir an Tempo. Für einen Moment hatte ich den Eindruck, dabei ins Wasser einzutauchen, und sah die Wellen recht hoch vor dem Bug, doch dann lief alles normal weiter.
»Wir müssten gleich da sein.«
»Sie kennen die Gegend besser.«
»Nun ja, die Insel war auch groß genug. Ich weiß nicht, ob wir es schaffen, direkt über ihr zu dümpeln, aber das wird man alles sehen.«
So ähnlich dachte auch ich. Nur dachte ich noch einen Schritt weiter und fragte mich, was passieren würde, wenn wir den bestimmten Punkt tatsächlich erreicht hatten. Man konnte zwar in das Wasser hineinsehen, aber nicht bis auf den Grund. Es musste also schon von der anderen Seite etwas kommen, damit wir aktiv werden konnten.
Langsam lief das Boot aus. Kein Motor meldete sich mehr. Wir waren ab jetzt den Wellen überlassen.
Ich gönnte mir einen Blick in die Runde. Beide Ufer des Fjords waren zu sehen. Aber es gab hier keine hohen Felsen oder ansteigenden Berge wie in den norwegischen Fjorden, hier waren die Ufer flacher.
Orson Keene verließ den Führerstand und klatschte in die Hände.
»Was machen wir nun?«
»Warten.«
»Und wenn nichts passiert?«
»Machen wir uns wieder auf den Rückweg.«
Keene schaute mich an, als hätte ich ihm etwas Schlimmes gesagt.
»Das meinen Sie doch nicht wirklich?«
»Klar, was meinen Sie denn?«
»Aber so kommen wir nicht weiter.«
»Und worauf wollen Sie hinaus?«
Keene verzog die Mundwinkel. »Das ist eigentlich ganz simpel. Ich denke, dass wir die Tauchklamotten nicht umsonst mitgenommen haben.«
»Sie wollen runter?«
»Ich habe die Insel gesehen, und das war keine Halluzination, Mr. Sinclair. Sie muss hier unter uns liegen. Und wenn ich daran denke, dass sie plötzlich auftaucht, kann mir schon leicht übel werden. Dann wird das eine Welle geben, die uns umhaut.«
»Ist Ihnen das damals auch aufgefallen?«
»Nein«, gab er zu. »Eigentlich nicht. Oder ich habe nicht so genau darauf geachtet und die Insel erst zu spät gesehen. Egal, was da passiert ist, ich glaube fest daran, dass wir tauchen müssen, um die Insel zu finden. Nicht mal zu tief, was auch wegen des Wasserdrucks nicht möglich ist. Aber…«
»Bitte, Mr. Keene, machen Sie sich darüber keine Gedanken. Das bekommen wir schon in die Reihe.«
»Sagen Sie ruhig Orson zu mir, Mr. Sinclair.«
»Wenn Sie mich John nennen.«
»Okay, John. Sie wollen demnach warten?«
»So ist es.«
»Gut.«
In der Mitte des Bootes waren zwei Bänke eingelassen. Sie standen sich gegenüber und boten Platz für vier Personen. Orson setzte sich auf eine Bank und wartete ab.
Ich ging zum Heck, wo ich meine Hände auf die runde Reling legte. Das Boot schaukelte auf den Wellen, die von allen Richtungen kommend gegen die Bordwand schlugen. Es hörte sich an, als bekämen wir permanent Beifall. Das Meer wurde nie ruhig. Auch jetzt war eine gewisse Dünung vorhanden, die das Boot mal anhob und es gleich darauf wieder abfallen ließ, eine üble Schaukelei.
Besorgt über das Wetter brauchte ich nicht zu sein. Als ich zum Himmel schaute, zeigte er sich zwar mit einem hellgrauen Wolkenmantel bedeckt, aber diese Wolken lagen nicht so tief, als dass sie sich über dem Wasser entleert hätten.
Alles war und alles blieb vorerst im grünen Bereich. Ich dachte daran, dass in all den Jahren die Insel nicht entdeckt worden war, und fragte mich deshalb, warum gerade zu diesem Zeitpunkt das Eiland wieder an die Oberfläche gestiegen war.
Gab es einen Grund dafür? War ein bestimmtes Datum wichtig?
Ich konnte mir keine Antworten geben, weil ich einfach zu wenig wusste. Dafür dachte ich mehr über die Beschreibung nach, die mir Orson Keene gegeben hatte.
Ein Friedhof mit aufgewühlten Gräbern und dazwischen der nackte Körper einer Frau.
Wie kam das zusammen? Wer war sie? Wer konnte sich auf einem Friedhof wohl fühlen?
Da fielen mir eigentlich nur die Ghouls ein, die scharf auf Leichen waren, da sie sich von ihnen ernährten. Ich wusste, dass es auch weibliche
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