1486 - Im Tempel der Furcht
waren.
Servietten hatte sie auch mitgebracht, und sie lächelte, als sie den Teller vor mir auf den kleinen Holztisch stellte.
»Sie werden sicherlich etwas Hunger haben. Bitte, essen Sie schon mal, ich bin gleich wieder bei Ihnen.«
»Danke.«
Sie huschte davon, und ich hörte sie die Stufen der Treppe hinaufgehen. Mit dem Bringen der kleinen Mahlzeit hatte sie mir genau den richtigen Gefallen getan.
Ich hatte Hunger und probierte die ersten Happen. Sie schmeckten fantastisch. Ich genoss sie, und erst Minuten später begann ich wieder an den Fall zu denken.
Es war schlecht vorstellbar, dass sich in dieser Umgebung ein archaischer Serienkiller herumtrieb, aber es war so. Es gab überhaupt keinen Grund für mich, an den Aussagen der Archäologin zu zweifeln. Dieser Killer war existent.
Aber wo steckte er jetzt?
Ich machte mir Gedanken darüber und überlegte für einen Moment, ob er eventuell die Flucht ergriffen haben könnte. Das wäre möglich gewesen, doch auf der anderen Seite musste ich mich fragen, warum er das hätte tun sollen? Eine Antwort wusste ich nicht.
Ich musste mich auf Rosy Keller verlassen, die mir bestimmt nicht alles gesagt hatte, was sie wusste, und das nicht mal bewusst.
Nach der Wohnung einer Archäologin sah es hier im Zimmer zumindest nicht aus. Da lagen keine alten Fundstücke in irgendwelchen Regalen, es stand auch nichts herum, was an ihren Beruf erinnert hätte, zum Bespiel alte Säulenbruchstücke oder antike Skulpturen. Es war einfach nur gemütlich. Die Frau schien zwei Leben zu führen.
Sie kehrte zurück. Der Kaffee war fertig. Die Kanne und zwei Tassen standen auf einem Tablett, das Rosy auf dem Tisch abstellte. Ich bekam es nur am Rande mit, denn ich musste Rosy einfach ansehen, weil sie sich umgezogen hatte.
Sie hatte sich für eine weiße Bluse entschieden, deren Ausschnitt ziemlich tief war. Die schwarze Hose ließ gewisse Rundungen deutlich hervortreten. Im Gesicht hatte sie etwas Rouge aufgelegt.
»Es war mir einfach zu warm«, erklärte sie ihre Verwandlung, als sie sich neben mich setzte, nachdem sie den Kaffee eingeschenkt hatte. »Ich laufe im Haus immer gern bequem herum.«
»Da können wir uns die Hände reichen.«
»Finde ich toll.«
Zu einem Schäferstündchen war ich nicht erschienen, obwohl Rosy Keller alles andere als eine unsympathische Frau war. Sie war keine dieser Bohnenstangen, sondern recht drall. Ihre ganze Art strahlte etwas Mütterliches aus.
Nach den ersten Schlucken stellte sie die Tasse weg und nickte mir zu. »Und nun sitzen wir hier und warten darauf, dass unser Serienmörder aus der Vergangenheit erscheint.«
»So ähnlich.«
Die Archäologin musste lachen. »Wissen Sie, Mr. Sinclair, das ist so irrsinnig, dass ich es selbst nicht glauben kann. Aber er ist hier im Haus gewesen, und ich bin heilfroh, dass er mich nicht entdeckt hat. Ich hatte mich zu gut versteckt.«
»Das ist alles okay. Wir wissen ja inzwischen, dass Sie nicht die einzige Zeugin sind. Nur schließt sich daran die Frage an, was er hier in Ihrem Haus zu suchen hatte. Das ist die Frage Nummer eins.«
»Ja, das weiß ich.«
»Und? Haben…«
Sie ließ mich nicht ausreden.
»Natürlich habe ich mir darüber Gedanken gemacht. Nur ist mir kein Grund eingefallen. Ich habe keine Ahnung.«
»Aber es muss mit Ihrer Arbeit zusammenhängen.«
»Das denke ich auch.«
»Mehr nicht?«
»Es ist schwer, etwas dazu zu sagen. Ich kann es mir nicht vorstellen, Mr. Sinclair.«
»Meinen Sie nicht, dass Ihre Beschäftigung mit dem Duke of Kent die zentrale Rolle spielt?«
»Doch. Aber wieso…?«
»Ich weiß es auch nicht. Sie haben sich vielleicht zu tief in diese Materie hineingewagt.«
»Als Forscherin?«
»Ja.«
»Und was bedeutet das?«
»Es könnte sein, dass Sie damit ungewusst irgendetwas aus der Tiefe hervorgeholt haben, das besser darin verborgen geblieben wäre. So sehe ich die Dinge im Moment.«
Rosy Keller musste nachdenken. »Meinen Sie, dass ich die Schuld daran habe, dass er als Gespenst erschienen ist?«
»Ob als Gespenst oder nicht, das will ich mal dahingestellt sein lassen. Aber Sie sind nicht grundlos gerade zu mir gekommen, oder?«
»Das stimmt.«
»Gut. Mir sind in meiner Laufbahn Dinge begegnet, die verdammt verworren sind für jemanden, der sich nicht damit beschäftigt.«
»Und was ist das?«
»Das will ich Ihnen sagen. Manchmal sind Menschen nicht tot, obwohl sie offiziell gestorben sind. Sie kehren zurück, aus welchen Gründen auch
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