1486 - Im Tempel der Furcht
zeigte sich ihr ein anderes Bild.
Die Luft flimmerte nicht mehr. Etwas war aus ihr entstanden. Sie war nur eine Vorbotin gewesen.
Das Ergebnis sah sie jetzt!
Auf dem alten Stuhl saß derjenige, dem er gehörte.
Sir Baldur Wainright, der Duke of Kent!
***
Es war ein unsichtbarer Hammerschlag, der die Frau erwischte und sie leicht in die Knie gehen ließ. Sie bekam in den ersten Momenten keine Luft mehr und hielt den Mund offen wie jemand, der noch einen letzten Atemzug vor dem Tod nehmen wollte.
Die Archäologin stand schwankend auf der Stelle.
»Nein!« brach es keuchend aus ihr hervor. »Nein, verflucht, das kann nicht sein. Das glaube ich einfach nicht!«
Sie erhielt keine akustische Antwort. Der Duke tat etwas anderes.
Er streckte seinen rechten Arm vor und winkte ihr zu, indem er den Zeigefinger krümmte.
Rosy erstarrte. Dann schüttelte sie den Kopf. Sie wollte einfach nicht gehen, aber der Duke winkte weiter, und zugleich spürte sie etwas in ihrem Kopf, das ihren Willen lähmte. Sie war nicht in der Lage, etwas zu sagen.
Ohne es richtig zu wollen und wie unter einem Bann stehend setzte sie einen Fuß vor den anderen. Mit steifen Bewegungen näherte sie sich dem Stuhl, auf dem Sir Baldur saß und sich ansonsten nicht bewegte.
Er trug die braune Kutte. In Brusthöhe klaffte im Stoff eine Lücke, sodass die Haut zu sehen war. Arme und Beine waren verdeckt.
Nur die Hände schauten aus den Ärmeln hervor, und der Kopf wurde von einer Kapuze bedeckt, die nur das Gesicht frei ließ.
Rosy Keller hatte es nie genau gesehen, jetzt blieb ihr im kalten Licht der Deckenleuchten nichts anderes übrig, als es anzuschauen und sich darauf zu konzentrieren.
Die Haut war weder verfault noch verwest. Sie zeigte die normale Farbe, die auch bei einem Menschen üblich war. Ein Phänomen, über das die Archäologin nicht weiter nachdachte und auch nicht nachdenken konnte, denn Sir Baldur hatte alles im Griff.
Er war derjenige, der ihr die Botschaft schickte und sie leitete. So stoppte sie ihre Schritte erst dann, als sie dicht vor dem Stuhl stand.
Er hätte nur den Arm ausstrecken müssen, um sie zu berühren, was er nicht tat. Mit auf beide Lehnen gelegten Armen blieb er sitzen.
Durch diese schon königliche Haltung verwandelte er den normalen Stuhl in einen Thron, der einzig und allein ihm gehörte.
Hatte Rosy bei dem ersten Zusammentreffen noch gezittert, so traf das jetzt nicht mehr zu. Sie konnte sich nicht erklären, weshalb sie keine Angst mehr hatte. Eine gewisse Faszination hatte sie erfasst.
Sie musste sich selbst gegenüber zugeben, von dieser Gestalt geistig gefesselt zu sein.
Es war bisher kein Wort zwischen den beiden so unterschiedlichen Personen gewechselt worden, und Rosy wusste auch nicht, ob das jemals passieren würde, aber dennoch gab es die Verbindung zwischen ihnen. Sie konzentrierte sich auf das Gesicht, in dem sie die Augen sah, deren Blick sie nicht losließ.
Für Rosy waren es besondere Augen. Kalt und bewegungslos.
Aber auf eine gewisse Art und Weise anziehend und hypnotisch. Es gelang ihr nicht, den Kopf zur Seite zu drehen und den Blick abzuwenden, sie musste ihn einfach anschauen.
Je länger sie ihn ansah, umso mehr veränderte sie sich. Ihr schien es, als wäre ein Funke übergesprungen, der noch den letzten Graben zwischen ihnen geschlossen hatte.
Kein Angst mehr.
Dafür Bewunderung und so etwas wie Hingabe. Durch ihren Körper strömte ein anderes Gefühl. Dieser Mann war etwas Besonderes.
Sie dachte auch nicht mehr daran, woher er kam und was er alles getan hatte. Der Duke of Kent war für sie zu einem Mann geworden, von dem sie auch hätte träumen können.
Das Gesicht behielt seine Starre. Da bewegte sich kein Muskel.
Auch die Lippen lagen zusammen. Dieser Typ war jemand, der wusste, wie er auf andere wirkte. Der nichts tat und abwartete, weil er sicher sein konnte, dass der andere den Anfang machen würde.
Eine Brücke des Schweigens war zwischen ihnen aufgebaut worden. Manchmal kann die Stille mehr als tausend Worte sagen, und so war es auch hier. Rosy fühlte sich zu dieser Gestalt hingezogen.
Sie hätte nichts dagegen gehabt, von ihr in die Arme genommen zu werden, um sich von ihr danach sexuell befriedigen zu lassen.
Es war eine verrückte Idee. Trotzdem hätte sie sich nicht gewehrt.
Sie konnte jetzt auch verstehen, dass die anderen Frauen dem Duke so leicht ins Netz gegangen waren.
Heute hätte man ihn als einen Womanizer bezeichnet. Damals musste er der
Weitere Kostenlose Bücher