1489 - Die Männerfalle
wenn ich ehrlich sein soll. Die meisten Menschen werden niedergeschlagen und dann ausgeraubt. Das ist wohl mit Ihrem Bruder nicht geschehen. Man hat ihn angegriffen und sich mit seinem Hals beschäftigt, was ich nicht begreifen kann. Als wäre ihm ein Tier an die Kehle gesprungen. Ich habe die Bissstellen gesehen.«
»Ich weiß, Officer.«
»Haben Sie denn eine Erklärung dafür?«
»Nein.«
»Wo war Ihr Bruder?«
Evelyn schaute zum Fenster, ohne es wirklich zu sehen. »Er hat seinen Gang gemacht, das sagte er immer. Und dieser Gang endet fast immer in einer Kneipe. Dort traf er sich dann mit anderen Saufkumpanen und redete über Gott und die Welt. Sie wissen ja selbst, wie das ist, wenn Männer an der Theke stehen.«
»Natürlich, Mrs. Gubo. Aber ist das zum ersten Mal mit Ihrem Bruder passiert, dass er so…«
»Verletzt nach Hause kam, meinen Sie?«
»Ja.«
»Das erste Mal!« bestätigte Evelyn. »Ich habe das vorher nie bei ihm erlebt. Das müssen Sie mir glauben. Deshalb war ich ja so geschockt. Ich wusste überhaupt nicht mehr, was los war. Ich hatte das Gefühl, einen Schlag gegen den Kopf zu bekommen, und kam mir vor wie in einem schlechten Film.«
»Kennen Sie das Lokal, das Ihr Bruder an diesem Abend besuchte?«
»Nein, Officer. Es gab da mehrere.«
Kovac hob seine dunklen Augenbrauen an. »Namen sind Ihnen nicht bekannt, Mrs. Gubo?«
»Einige schon. Lassen Sie mich nachdenken, bitte.« Sie zählte drei Pubs auf und fügte hinzu: »Das sind alle.«
»Danke.«
»Wollen Sie dort nachfragen?«
»Das hatten wir vor. Es kann eine Schlägerei gegeben haben, bei der einer durchdrehte und ihren Bruder attackierte. Vielleicht mit einer abgebrochenen Flasche, die er ihm gegen den Hals stieß. Jedenfalls sehen die Verletzungen nicht eben normal aus. Da muss man schon eine andere Waffe eingesetzt haben.«
»Ja, das denke ich auch.«
»Sonst fällt Ihnen nichts ein? Hat Ihr Bruder Feinde?«
»Ich kenne keine.«
Kovac lächelte ihr zu. »Okay dann werden wir uns mal in den Lokalen umhören.«
»Sagen Sie mir Bescheid?«
»Ja, aber ich denke, dass es schon morgen früh werden wird. Ansonsten freuen Sie sich darüber, dass Ihr Bruder noch lebt. Es hätte auch anders für ihn ausgehen können.«
»Ich weiß«, murmelte sie.
Die beiden Männer erhoben sich. Auch Evelyn stand auf. Sie fühlte sich noch immer dumpf im Kopf, doch sie bekam mit, dass die beiden miteinander sprachen.
Sie redeten über die Verletzungen, und der Jüngere der beiden sagte: »Ich habe da einen bestimmten Verdacht.«
»Und welchen?«
»Aber lach mich nicht aus.«
»Versprochen.«
»Diese Bisswunden oder Verletzungen sehen aus, als wäre der Typ einem Vampir begegnet, der ihn angefallen hat, es aber nicht schaffte, ihm das Blut auszusaugen.«
»Bitte?«
»Ja, so sehe ich das.«
»Das ist doch Unsinn.«
»Wir sollten den Verdacht trotzdem nicht für uns behalten.«
»Deinen Verdacht.«
»Egal.«
»Und wem sollen wir deiner Ansicht nach deinen Verdacht mitteilen?«
»Na ja, ich glaube, da gibt es jemand, der sich dafür interessieren würde, auch wenn es nur ein Verdacht ist.«
»Wer denn?«
»Das sage ich dir später.«
Mehr bekam Evelyn Gubo von der Unterhaltung nicht mit, denn beide Polizisten verließen in diesem Augenblick das Haus und ließen eine recht ratlose Frau zurück.
Als der Wagen abfuhr, schloss sie die Tür. Um die Gaffer, die trotz der späten Stunde noch glotzten, kümmerte sie sich nicht. Sie dachte über das nach, was der junge Polizist angedeutet hatte. Da war der Begriff Vampir gefallen, und darüber musste sie erst mal nachdenken. Natürlich kannte sie das Wort, aber es wäre ihr niemals eingefallen, dass es solche Wesen tatsächlich gab. Vampire waren etwas fürs Kino oder für einen Roman, aber nicht für das normale Leben.
Da hatte der Mann in seiner Fantasie wirklich zu weit gegriffen.
Oder nicht?
Der Mann hatte auf sie nicht eben den Eindruck eines Spinners gemacht. Der hatte so etwas nicht grundlos gesagt, und als sie näher darüber nachdachte, rann ein kalter Hauch über ihren Rücken hinweg.
Sie strich über ihre Stirn, auf der das blonde Haar in dünnen Strähnen klebte. In dieser Nacht würde sie kaum noch Schlaf finden. Immer wieder sah sie das Bild ihres Bruders vor sich. Er hatte schrecklich ausgesehen. All das Blut, das sich auf seinem Körper ausgebreitet hatte. Es war zu schlimm gewesen.
War es wirklich in einem Pub passiert?
Auch das war so eine Sache. Unvorstellbar.
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