149 - Piraten der Finsternis
Managerverstand schaffte es, eine Art Salto auszuführen. Er vermochte den kleinen Ausschnitt einer längst in der Dämmerung des Menschengeschlechts vergrabenen Zeitalters auf die Ebene der Gegenwart zu projizieren. Torben sagte kein Wort, kontrollierte den Kurs und setzte die Geschwindigkeit herauf, während er mit einem Arm Roquette festhielt, ihr Haar und ihre Schultern streichelte und sich durch gezielte Arbeit weiterhin ablenkte. Erst lange Minuten später, als die NEFERTITI in sicherer Entfernung vom Ufer wieder auf Hafenkurs lag und er die Drehzahl reduzierte, sagte er leise:
„Übernimm das Schiff, Nixlein. Ich brauche eine Zigarette und einen großen Framboise."
„Mir auch einen", bat sie schwach und warf den leer geschossenen Revolver auf die Polster der Achterdeckbank. „Du warst der mutigste Kapitän dieser Tage."
„Schon gut. Wir sprechen später über alles."
Sie nickte. Über alles? Nein. Auch er würde nur einen Teil der Wahrheit erfahren müssen - zu seinem eigenen Schutz. Aber sie brauchte Hilfe. Es gab nur einen, der jetzt wirklich helfen würde. Dorian Hunter. Er mußte kommen, und ihm würde auch einfallen, wie die Dämonen samt ihrem verfluchten Schiff zu vernichten waren.
Es war reizvoll, daran zu denken, wie sich Dorian und Jeannot d'Arc unterhalten würden.
Torben Capeder kam die Leiter hoch, trug einen gefüllten Plastikbecher, der einen herrlichen Geruch verströmte. Nach dem Leichengestank, den das namenlose Schiff hinterlassen hatte, war es wie eine Erlösung. Er rauchte die zweite Zigarette und reichte Roquette den Becher.
„Ich verstehe nichts", sagte er langsam, „aber ich habe heute nacht wohl eine mehr als außergewöhnliche Frau kennengelernt."
Der erste Schluck brannte in der Kehle, der zweite war mild, und der dritte ließ ihre Schwäche vergehen.
„Ich habe zu lange und zu tief unter solchen Kreaturen gelitten", erläuterte sie so ruhig wie möglich. „Sie zerstören, wenn ich sie nicht zu vernichten versuche, mein Leben. Keine Sorge; sie sind nicht sonderlich zahlreich. Aber sie befinden sich, vielfach unbekannt, mitten unter uns. Die Kreaturen dieses Schiffes stammen aus der Vergangenheit und scheuen, wie du dir denken kannst, das Tageslicht. Nachts sind sie doppelt gefährlich. In den letzten Tagen haben sie entlang der korsischen Küste acht junge Frauen geraubt, von denen man etwas weiß. Wie viele andere, angeblich ertrunken oder verschwunden, noch zu ihren Opfern zählen, weiß niemand."
„Was tun diese… Dämonen mit den Frauen?"
„Nichts, was erzählenswert oder besonders appetitlich ist. Frage nicht. Der Vampir, der uns verfolgte, war jedenfalls nicht an das Schiff gebunden. Er konnte durch die Nächte fliegen und sich seine Opfer suchen."
Wortlos griff Torben nach dem Becher und trank.
„Willst du heute auf dem Schiff bleiben?" fragte er. Roquette nickte.
„Ich wüßte keinen besseren Ort. Vielleicht können wir nachmittags zu einem Strand fahren? Ich muß nur gegen Mittag ein Ferngespräch führen."
„Das geht von Bord aus", sagte er und wunderte sich über ihre Antwort.
„Ich weiß. Simplex oder Duplex?"
„Duplex", murmelte er. „Ich staune immer mehr."
Sehr viel langsamer fuhren sie nach Propriano zurück, legten leise und vorsichtig an, und Roquette zeigte sich außerordentlich geschickt. Landstrom und Wasserversorgung wurden angeschlossen, sie lud ihre Waffe nach und versteckte sie in ihrer Handtasche, und nur langsam gelang es ihr, sich bei Kerzenlicht, stereophonischer Musik, laufender Klimaanlage und heißer Milch mit Honig und Rum zu entspannen. Torben zog die Lamellenvorhänge vor den Fenstern zu und wartete lange und geduldig, bis Roquette heiß und kalt geduscht hatte und in seine Arme kam.
Sie nahm sein braunes, schmales Gesicht in beide Hände und schaute mit zwingendem Blick in seine Augen. In der Dunkelheit der Kabine - nur vages Tageslicht sickerte durch die haarfeinen Spalten der Lamellen - waren sie undefinierbar dunkel geworden.
„Wenn du willst, daß ich bleibe", flüsterte Roquette in einem Tonfall, der jeden Zweifel an der Bedeutung ausschloß, „dann stelle nicht zu viele Fragen. Vieles wirst du aus meinem Verhalten erfahren. Ich bin uralt und weise, fünfhundert Jahre und einen wunderschönen Vormittag alt, und ich bin ernsthaft in dich verliebt, Torben. Ich weiß nicht, was nächstes Jahr sein wird. Vielleicht bist du der letzte Mann in meinem Leben. Mach es mir nicht zu schwer. Versprochen?"
Torben
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