1490 - Das Rätsel der Leichenvögel
ziemlich stark.«
»Das ist mir egal«, sagte sie und schaute zu, wie sich ihr Freund umdrehte.
Er schaute zurück. Sehr weit waren sie auf ihrer Flucht nicht gekommen, denn es gelang ihnen, noch einen Blick auf den seltsamen Friedhof zu werfen.
Die Vögel waren noch da. Sie flogen nur nicht mehr durch die Luft, sondern hatten sich auf den Grabsteinen verteilt. Dort hockten sie wie kleine grüne Statuen. Ob sie die Augen offen oder geschlossen hielten, war nicht zu erkennen, aber sie sahen, dass ein Grabstein frei geblieben war. Es ließ darauf schließen, dass ein Vogel fehlte.
Ohne sich abgesprochen zu haben, hatten beide vorgehabt, wieder zu ihrem Wagen zu laufen. Jetzt dachte keiner von ihnen daran, dies auch in die Tat umzusetzen. Obwohl auf dem Waldfriedhof nichts weiter passierte, konnten sie ihre Blicke nicht von ihm wenden. Außer einem war jeder Grabstein besetzt, und das musste einfach einen besonderen Grund haben, den sie vielleicht herausfinden konnten.
Kein Vogel bewegte sich. Obwohl es keinen Beweis dafür gab, hatten sie den Eindruck, dass die Tiere auf den Steinen auf etwas warteten. Sie hatten die Plätze eingenommen wie Menschen, die im Theater saßen und darauf warteten, dass die Oper oder das Schauspiel bald anfing.
Simone Radmann achtete nicht weiter auf ihre Verletzung. Der zuckende Schmerz in ihrer Wange war zu ertragen.
»Da passiert gleich was«, flüsterte sie. »Man hat uns vertrieben, weil man freie Bahn haben will.«
»Für wen denn? Oder für was?«
»Weiß ich nicht.«
Keiner von ihnen traf Anstalten, zu gehen. Jeder war von dieser einmaligen Spannung erfasst. Es würde etwas passieren, daran glaubten sie jetzt fest. Und sie hatten sich nicht geirrt, denn der Friedhof begann ein anderes Gesicht zu zeigen.
Bei den Grabsteinen veränderte sich nichts, auch nicht bei den Vögeln, aber über dem Gelände geschah etwas.
Zwischen den Kronen der Bäume bewegte sich die Luft. So zumindest sah es aus. Aus irgendeinem für sie nicht erkennbaren Hintergrund hatte sich etwas gelöst und schob sich nun nach vorn.
»Ist das eine Wolke?« flüsterte Simone.
»Wenn ja, dann eine große.«
»Das glaube ich auch.«
Simone nickte. »Und eine grünliche. Das ist doch nicht normal, verdammt.«
»Was ist denn hier schon normal?«
»Stimmt auch wieder.«
In den folgenden Sekunden konzentrierten sich beide darauf, was in Höhe der Baumkronen genau ablief. Den Begriff Wolke hatten sie schnell wieder vergessen, denn das Gebilde blieb nicht gestaltlos. Es nahm eine bestimmte Form an, und sie beide bekamen große Augen, denn was sie sahen, konnten sie kaum glauben.
In der Wolke erschien ein Gesicht. Bei ihm war nicht zu erkennen, ob es sich um einen Mann oder eine Frau handelte. Sie mussten von einem neutralen Wesen ausgehen, aber dass dieses Gesicht menschliche Züge hatte, war nicht zu übersehen.
Simone ergriff die Hand ihres Freundes und drückte sie. »Mein Gott, was ist das?«
»Keine Ahnung. Sieht aber aus wie ein Gesicht.«
»Und wem gehört es?«
»Vielleicht einem Geist, der irgendwo in den Wolken lebt. Allmählich glaube ich alles.«
»Es ist nicht normal.«
»Wie meinst du das?«
»Es – es – sieht aus – und jetzt lach mich nicht aus –, als wäre es geflochten.«
Elliot atmete scharf ein, bevor er flüsterte: »Das Gleiche habe auch ich gedacht.«
»Aber wie ist das möglich?«
»Frag mich nicht. Hier ist das Unmögliche möglich geworden. Ein geflochtenes Gesicht ist da…«
Simone ließ ihn nicht ausreden. »Als bestünde es aus Pflanzenresten oder biegsamen Zweigen und so…«
»Stimmt.«
»Aber das kann nicht sein, verdammt.«
Elliot gab keine Antwort. Er wollte nicht mehr darüber nachdenken, was sein konnte und was nicht. In ihrer Situation musste man auch ein Gesicht in Kauf nehmen.
»Augen, Nase, Mund«, zählte Simone auf, »da ist alles vorhanden. Nicht so exakt wie bei einem Menschen. Ich tippe immer mehr darauf, dass es sich tatsächlich aus Pflanzenteilen zusammensetzt. Etwas anderes kann ich nicht sagen.«
»Ein Naturgeist«, flüsterte Elliot. »Verdammt noch mal, das muss es sein.«
»Und wie kommst du darauf?«
»Ich habe mich daran erinnert, was mein Vater mal gesagt hat. Er sah sich ja als einen der Erben der Natur an, und er meinte, dass er Kontakt mit einem alles umfassenden Naturgeist bekommen hat. Darüber habe ich nur den Kopf geschüttelt, aber davor würde ich mich jetzt hüten. Das alles ist jetzt zur Wahrheit geworden.«
»Ich
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