1490 - Das Rätsel der Leichenvögel
Menschen. So hatte er vor einigen Stunden noch gedacht. Nun aber hielt er alles für möglich. Jetzt war der Wald für ihn zu einem Gefängnis geworden, zwar durchlässig, aber immerhin so etwas wie ein natürlicher Knast.
»Ich denke, wir sind gleich da.«
Simones Stimme riss ihn aus seinen Gedanken. In den letzten Minuten hatte er keinen Blick mehr für seine Umwelt gehabt, was sich nun änderte. Elliot erwachte wie aus einem Traum. Er schaute sich um. Er suchte die Gräber, aber sie waren nicht zu sehen. Dafür wies Simone auf den Vogel hin, der sich anders verhielt als bisher. Diesmal saß er nicht auf einem Ast und wartete auf sie, er war ein Stück weiter nach vorn geflogen und kreiste über einem bestimmten Gebiet, wobei aus seinem Schnabel die krächzenden Schreie drangen, die sich in der Stille des Waldes doppelt so laut anhörten.
»Er gibt uns ein Zeichen, Elliot.«
»Und?«
»Wir sind da.«
Elliot nickte. »Ja, ich weiß.« Dann blies er die Luft aus. »Es hat so kommen müssen. Ich fühle mich nur nicht gut. Wenn ich daran denke, dass ich bald die Gräber sehe und weiß, dass in einem mein Vater liegt, dessen Augen im Kopf eines Vogels zu sehen sind, dann bekomme ich schon weiche Knie.«
»Das kann ich verstehen.« Simone wollte ihm Mut machen. »Aber keine Sorge, ich bin bei dir.«
»Du glaubst gar nicht, wie froh ich darüber bin.«
Simone Radmann brauchte nur in das Gesicht ihres Freundes zu schauen, um zu erkennen, dass er nicht schauspielerte. Seine Haut war blass geworden, der Blick ängstlich und Elliots Haltung glich der eines furchtsamen Menschen, der Angst vor dem eigenen Schicksal hatte.
»Das schaffen wir schon, Elliot, keine Sorge! Wir bringen es hinter uns.«
»Ja. Hoffentlich.«
Die grüne Saatkrähe war gar nicht zu beruhigen. Sie wollte die beiden Menschen näher zu sich heranlocken, deshalb flog sie auf sie zu, huschte wieder weg und flog den gleichen Weg zurück, um ihnen zu demonstrieren, wo das Ziel lag.
Simone umfasste noch entschlossener die Hand ihres Freundes. Sie wollte nicht länger zögern und zog ihn mit.
Wenig später hatten sie den freien Blick. Die Lücken zwischen den Bäumen waren größer geworden, und so konnten sie auf das schauen, was vor ihnen lag.
Es war der Friedhof mitten im Wald!
Beide hatten damit gerechnet, ihn zu sehen. Sie hatten sich auf dem Weg dorthin sogar darauf vorbereiten können, dennoch waren sie jetzt überrascht, vor ihm zu stehen. Es war etwas anderes, wenn nur von einer bestimmten Sache gesprochen wurde oder sie plötzlich in Wirklichkeit vorhanden war. So wie jetzt.
Elliot reagierte zuerst. Er schüttelte den Kopf und hörte dabei Simones Frage.
»Was hast du?«
»Er ist mir so fremd«, flüsterte er, »so verdammt fremd. Dabei war ich schon mal hier.«
»Man vergisst leicht etwas.«
»Sicher.« Der Schauer, der Elliot erfasst hatte, wollte nicht weichen. In seinen Augen lag ein unsteter Blick. Er hatte das Gefühl, nicht mehr in der normalen Welt zu sein.
Grabsteine verteilten sich auf einer Lichtung, wo keinerlei andere Gewächse störten. Es gab zwar zahlreiche Grabsteine, aber es waren keine Gräber vorhanden. Auf Parzellen für die Toten hatte man verzichtet.
Jeder Stein sah gleich aus. Ein Viereck mit einem bogenförmigen Abschluss. Von der Grundfarbe her grau, hatten die Steine allerdings in der letzten Zeit bereits so etwas wie eine dünne Patina angesetzt. Da hatten Moose und Flechten für diesen grünlichen Farbschimmer gesorgt.
Das Gras war nicht so hoch gewachsen, als dass es die Steine überdeckt hätte. Bis zur halben Höhe stand es und hatte ebenfalls eine winterliche Farbe angenommen.
Es waren mehr als ein Dutzend Grabsteine, die auf dem Feld standen und als stumme Zeugen der hier unter der Erde liegenden Menschen dienten, die allesamt Selbstmord begangen hatten. Als Simone daran dachte, erfasste sie ein Schauer.
Bisher hatten die beiden Ankömmlinge nicht weiter auf den Vogel geachtet. Durch sein heftiges Flattern der Flügel wurden sie wieder auf ihn aufmerksam. Sie sahen, dass die grüne Saatkrähe über die Steine hinweg flog, dann umdrehte, aber nicht den gleichen Weg zurücknahm, sondern sich einen Stein aussuchte, auf dem sie sich niederließ.
Elliot Wells zuckte zusammen, als hätte man ihn geschlagen. Er starrte den Vogel an, der auf dem Grabstein hockte, und er wusste plötzlich Bescheid.
Bevor er etwas sagen konnte, fing er an zu zittern. Auch seine Stimme klang zittrig. Es war für ihn ein
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