1490 - Das Rätsel der Leichenvögel
Schock, die Krähe auf diesem bestimmten Stein sitzen zu sehen.
»Das muss das Grab meines Vaters sein«, flüsterte er. »Sonst hätte sich das Tier nicht dorthin gesetzt.« Er nickte. »Verdammt noch mal, sie haben alles so perfekt gemacht, selbst im Tod. Er wollte sterben, um eins mit der Natur zu sein. Das hat er geschafft. Er ist eins mit ihr geworden, aber es ist noch mehr passiert. Er hat sich verändert. Er ist zu einem Anderen geworden. Aus dem Menschen wurde ein Vogel.« Er fing an zu lachen, und dabei liefen ihm Tränen über die Wangen. »Das ist nicht zu fassen, das ist grauenhaft, wenn ich darüber nachdenke, aber er hat es geschafft. Er ist noch ein Teil der Natur, ein Vogel…«
Simone sah, dass ihr Freund von diesen Gedanken und auch Tatsachen sehr mitgenommen wurde. Er hielt sich nur mühsam auf den Beinen. Die unbegreiflichen Tatsachen sorgten bei ihm für diese Schwäche, und nach wie vor rannen Tränen aus seinen Augen.
Simone Radmann stützte ihren Freund. Sie konnte nachvollziehen, wie es in ihm aussah.
Der Vogel auf dem Grabstein hatte sich gedreht und ließ sie nicht aus seinen menschlichen Augen.
Was war hier passiert? Wie konnte so etwas überhaupt Realität werden? Es war Simone ein Rätsel. Sie stand fast neben sich. Wenn sie sich über dieses Problem den Kopf zerbrach, kam sie trotzdem nicht weiter. Die Logik brachte sie hier nicht weiter. Hier zeigte sich das Leben von einer ganz anderen Seite.
Elliot fing sich wieder. Er putzte sich die Nase und nickte seiner Freundin zu, als er das Taschentuch wieder wegsteckte.
»Geht es dir jetzt etwas besser?«
»Ja, verdammt, es geht. Ich – ich – konnte einfach nicht anders, verstehst du?«
»Klar.«
Elliot schluckte. »Ich weiß jetzt, wo mein Vater liegt, obwohl keine Namen auf den Grabsteinen stehen. Es ist schon alles klar«, sagte er mit leiser Stimme und schloss für einen Moment die Augen.
»Wir wissen jetzt Bescheid«, sagte Simone leise.
Ihr Freund überlegte. »Wissen wir das wirklich?« flüsterte er.
»Ja, wir…«
»Nein, Simone, nein. Ich weiß, dass mit meinem Vater etwas passiert ist, aber warum sitzt der Vogel hier? Warum hat man uns an diesen Ort gelockt? Dafür muss es doch einen Grund geben. Oder glaubst du nicht daran?«
»Doch. Aber ich kann mir keinen vorstellen.«
»Ich auch nicht.«
»Wirklich nicht?«
»Nein, ich stehe hier, ich sehe den Vogel auf dem Grabstein, und das kann nicht alles sein. Ich will auch nicht glauben, dass er der einzige Vogel ist, dem das Schicksal widerfuhr, sich mit den Augen eines Menschen zu zeigen. Da muss es noch etwas geben.«
»Kann sein.«
»Ich denke da an weitere Leichenvögel.«
Simone sagte nichts. Aber sie erschauderte, und dann nickte sie, bevor sie zugab: »Der Gedanke ist mir auch schon gekommen. Sie alle müssen sich verwandelt haben. Sie gingen in den Tod, aber sie wussten genau, dass sie eine Wiedergeburt erleben würden. Und zwar als Vogel und nicht als irgendein anderes Wesen.«
»Genau.«
»Aber wo stecken die anderen?«
Auf diese Frage wusste keiner von ihnen eine Antwort. Sie standen zusammen und ließen ihre Blicke über die Gräber gleiten, ohne jedoch etwas Besonderes erkennen zu können.
»Der Wald ist trotzdem noch recht dicht«, sagte Simone. »Da könnte es Verstecke geben.«
Es war, als hätte sie ein Stichwort gegeben. Plötzlich wurde die Stille durch ein bestimmtes Geräusch unterbrochen. Beide hörten sie das Flattern von Flügeln, aber der Vogel auf dem Grabstein hatte sich nicht bewegt.
Einen Moment später huschte ein zweiter Vogel durch ihr Blickfeld. Es war ebenfalls eine Saatkrähe, und auch sie hatte ihre schwarze Farbe verloren. Auch sie hatte ein giftgrünes Gefieder, drehte einmal einen Kreis über den Grabsteinen und ließ sich dann auf einem nieder, der dem gegenüber stand, auf dem der andere Vogel saß.
»Der zweite«, flüsterte Elliot Wells. »Verdammt, dann können wir davon ausgehen, dass auch alle anderen Grabsteine bald besetzt werden.«
»Warte erst mal ab.«
»Doch, doch, Simone. Sie haben sich alle selbst getötet, und sie alle haben es geschafft, ein Teil der Natur zu bleiben. Sie sahen sich doch als Erben. Und du brauchst nur richtig hinzuschauen, um zu sehen, was aus ihnen geworden ist.«
Simone hatte vorgehabt, ihren Sinn für die Realität nicht zu verlieren. Das allerdings fiel ihr immer schwerer. Was hier ablief, das war nicht zu erklären.
Sie wusste nicht, wie sie dies einordnen sollte, mit
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