1490 - Endstation Sol
dürr. Er wirkte förmlich ausgezehrt, wie durch große Entbehrungen abgemagert. Daarshol dachte bei sich, daß dies vielleicht aber auch ein Symptom für eine schwere Krankheit war. War er vom Tode gezeichnet? Wurde im Kreis der Acht bald ein Platz frei?
Daarshol verwarf solche Überlegungen rasch wieder und konzentrierte sich auf die Erscheinung des weisen Herrn.
Sein schmales Gesicht war von unnatürlicher Blässe, als hätten noch nie bräunende Sonnenstrahlen die Haut erreicht. Das schüttere Blondhaar war straff aus der hohen Stirn gekämmt, die blauen Augen blickten in unendliche Ferne, gerade so, als fänden sie in der Ratshalle keinen Bezugspunkt. „Ich suche zehn Freiwillige für einen geheimen Sondereinsatz", sagte er. „Es geht dabei um die Mobilisierung der Bionten. Suprematoren mit einschlägiger Erfahrung werden bevorzugt. Vorerst werden nur administrative Arbeiten zu erledigen sein, aber im Ernstfall müßt ihr auch rnit einem Kampfeinsatz rechnen. Einzelheiten gehen den Betreffenden erst nachträglich zu. Wer meldet sich?"
Ohne lange zu überlegen tippte Daarshol den entsprechenden Kode ein, mit dem gleichzeitig seine persönlichen Daten übermittelt wurden. Es war ihm im Grunde egal, um welchen Einsatz es sich handelte. Ihm ging es in erster Linie um die Chance, im Außendienst aktiv zu sein. Er wollte einfach weg von Schotschi, wieder einmal hinaus aus dem Chrukodh-System und, wenn schon nicht die Unendlichkeit, so wenigstens die Weite des begrenzten Alls spüren. „Du", sagte Ager Catomen und blickte in Richtung irgendeines Supremators links von Daarshol. Und dann wieder: „Du!" Und er blickte dabei in Daarshol Richtung, sah aber tatsächlich seinen Nebenmann Onchesho an. Ähnliches wiederholte sich noch siebenmal, ohne daß Daarshol berücksichtigt worden war. Er gab bereits die Hoffnung auf, zu den Auserwählten zu gehören, als die Stimme Ager Catomens zum letztenmal ertönte. „Und du!" Dabei sah die Projektion des Herrn der Straßen Daarshol voll in die Augen.
*
Es war ungewiß, wie lange es dauern konnte, bis der Einsatzbefehl für Daarshol kam. Langeweile überkam ihn in der nächsten Zeit dennoch nicht. Anfangs hatte er ohnehin genügend damit zu tun, sich erst einmal mit dem Basismaterial für das „Unternehmen Oktober-Bionten", unter welcher provisorischen Bezeichnung das Geheimkommando lief, vertraut zu machen. Daneben hatte Daarshol auch noch seine Routineaufgaben zu erledigen - und er setzte darüber hinaus auch noch seine privaten Nachforschungen fort.
Er sammelte alles erreichbare Material über den mächtigen weisen Herrn Ager Catomen. Das war nicht viel, aber Daarshol durfte hoffen, unter dessen persönlichem Befehl weitere Einzelheiten zu erfahren.
Eines ließ ihn jedoch stutzig werden. Als er Cemaachs Unterlagen noch einmal durchforstete, stolperte er in ganz anderem Zusammenhang über den Namen Ager Catomen: Ein Terraner dieses Namens war bereits im Jahr 490 NGZ Hansesprecher gewesen.
Diese Tatsache untermauerte Daarshols Theorie, daß die Namen der acht Herren der Straßen zwar Bestand hatten, die Personen, die dahinterstanden, jedoch auswechselbar waren. Denn ein so kränklich aussehender Mann wie der weise Herr Ager Catomen konnte nie und nimmer unsterblich und noch nicht einmal langlebig sein!
Bisher hatte sich noch nicht abgezeichnet, ob jeder Herr der Straßen ein spezielles Interessengebiet hatte und ob ihnen bestimmte Ressorts zugeteilt waren. In Ager Catomens Fall ließ sich jedoch eine eindeutige Zuordnung treffen: Er war für alle die Bionten betreffenden Belange zuständig; für jene unerwünschten Mutationen also, dem sogenannten Gen-Müll, der bei den vielfältigen und gewagten genetischen Experimenten unvermeidlich war. Die zugestandenen Fehlerquoten beliefen sich im Genbereich auf rund zehn Prozent, wurde jedoch durch Sabotageakte der Widder drastisch in die Höhe getrieben.
Im speziellen'Fall ging es um die Gen-Fabrik Aptulat und einer dort produzierten Klon-Serie, die unter der Bezeichnung „Baalol-700" geführt wurde. Bei diesen Klonen handelte es sich ausnahmsweise jedoch nicht um Gen-Müll mit ungewöhnlichen Fähigkeiten, die der Zufall ihnen geschenkt hatte, sondern um Jahrhundertklone, wie sie alle 100 Jahre absichtlich gezüchtet wurden.
Diese „Octos", wie dieser spezielle Stamm von Baalol-700-Klonen auch genannt wurde, hätten ursprünglich eigentlich erst im Jahr 1149 auf die Milchstraße losgelassen werden sollen. Der
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