1499 - Rattenwelt
unbedingt bei einem Treffen rauskommen. Aber das ist im Moment Nebensache. Mich interessiert etwas ganz anderes. Was stört dich an meinem Kreuz? Was hat es mit den Ratten oder mit dessen King zu tun? Diese Frage hast du mir noch nicht beantwortet.«
Bisher waren wir bei der Theorie geblieben, was ich zu ändern beabsichtigte, und ohne Vorwarnung holte ich das Kreuz aus der Tasche und zeigte es offen. Das konnte auch der fallende Schnee nicht verhindern. Clara musste es einfach anschauen, denn sie hatte ihren Kopf nicht zur Seite gedreht.
Sie tat etwas, was mich überraschte. Urplötzlich startete sie und rannte auf mich zu. Es war kein normales Laufen, denn auf der Schräge schwankte sie schon. Sie gab dabei Schreie von sich, als wollte sie eine Armee von fiependen Ratten übertönen.
Ihr auszuweichen wäre relativ leicht gewesen. Zumindest bei einem trockenen Dach. Hier aber lag eine dicke Schneeschicht, und es war leider sehr glatt.
Sie flog rutschend und stolpernd auf mich zu. Ihr Gesicht schien nur noch aus dem Mund zu bestehen, so weit hatte sie ihn aufgerissen.
Ich drehte mich weg und rutschte aus.
Verdammt, ich hatte die Glätte unterschätzt. Schnell wieder Gleichgewicht zu finden war so gut wie unmöglich.
Dann hatte Clara mich erreicht.
Wir prallten nicht voll aufeinander. Aber es reichte schon aus, dass sie mich an der rechten Seite erwischte. Ich fiel nach links auf die Schräge, aber das erging Clara nicht anders. Kurz bevor sie mich erreichte, war sie ins Rutschen gekommen, und sie klammerte sich an mir fest wie eine Schiffsbrüchige an einem Balken.
Wir konnten uns beide nicht mehr fangen oder halten. So rutschten wir gemeinsam dem Dachrand entgegen und hielten uns gegenseitig fest.
Es war kein sehr hohes Haus, aber wenn man aus dieser Höhe unglücklich aufprallte, konnte man sich schon verletzen.
Es gab nichts, was unsere Rutscherei gestoppt hätte. Auch nicht die mit Schnee gefüllte Dachrinne. So glitten wir über sie hinweg und fielen in die Tiefe…
***
Sekunden später erfolgte der Aufprall!
Wir schlugen beide in den Schnee und merkten, dass die Schicht unseren Aufprall abfederte.
Natürlich war er zu spüren, der Schnee war kein Sprungtuch, aber wir hätten uns auch bei dieser geringen Fallhöhe leicht etwas brechen können. Verletzt war ich nicht, sehen konnte ich auch kaum etwas, weil der Schnee um uns herum in die Höhe stob, aber ich hörte das wütende Keuchen der Frau.
Ich hatte den leichten Schock des Aufpralls schnell überwunden.
Clara griff mich nicht an. Ich hätte mich auch um sie gekümmert, aber da gab es andere Dinge, die wichtiger waren.
Meine Gedanken kehrten automatisch zu den Ratten zurück. Sie waren letztendlich diejenigen, auf die es ankam. Sie hatten das Unheil gebracht, und ich glaubte nicht daran, dass sie sich schon zurückgezogen hatten.
Ich stieß die Frau von mir weg und rappelte mich hoch. Erst bei dieser Bewegung wurde mir klar, dass ich keine Verletzung davongetragen hatte. Abgesehen von einem Ziehen im Rücken und dem Druck an der rechten Hüfte spürte ich nichts.
Nach wie vor rieselte der Schnee, aber die Flocken hatten ihre Dichte verloren. Sie glichen jetzt mehr kleinen Kristallen, die nicht mehr so weich waren und bereits einen etwas härteren Film auf die Schneedecke gelegt hatten.
Die Ratten hatten sie nicht vertreiben können. Dazu brauchte ich nicht mal einen zweiten Blick, um sie zu sehen. Sie lauerten im Schnee, hatten sich aufgeteilt und bildeten kleine Gruppen. Egal, welchen Weg ich auch einschlagen würde, ich würde ihnen immer in die Quere kommen.
Wir waren an der Vorderseite des Hauses zu Boden gefallen. Hier hockten sie ebenso wie an der Rückseite. Es gab kein Entkommen.
Mir fiel auch der Constabler ein. Sicher saß er noch in Janes Golf. Bei klarem Wetter hätte ich ihn auch gesehen, aber der fallende Schnee nahm mir die Sicht.
Kurze, aber wild ausgestoßene Flüche machten mich auf Clara Seymour aufmerksam. Sie hatte länger im Schnee gelegen als ich und war endlich dabei, auf die Füße zu kommen. Ich beachtete sie nicht weiter, denn rechts von mir nahm ich eine Bewegung wahr.
Jemand öffnete die Haustür.
Das konnte nur Jane Collins sein. Die Tür öffnete sich weiter und ich sah Janes Gesicht in dem Spalt. Sie schaute nach draußen, sah mich und zog die Tür ganz auf.
»Komm rein, John!«
»Nein!«
»Aber…«
»Bleib du im Haus!« rief ich ihr zu. »Geh keinen Schritt nach draußen!«
»Bist du denn
Weitere Kostenlose Bücher