15 Gruselstories
Zeiten. Seine Taten stellten die von Dr. Crippen und Springheel-Jack in den Schatten. Jack the Ripper! Der ›rote Jack‹!«
»Ich habe von ihm gehört«, sagte ich.
»Kennen Sie seine Geschichte?«
»Sind Sie zu mir gekommen, Sir Guy«, brummte ich ärgerlich, »um mit mir über die berühmten Verbrechen der Vergangenheit zu tratschen?«
Er warf mir einen vernichtenden Blick zu und holte tief Luft.
»Das ist kein Tratsch«, stieß er hervor. »Das ist eine Sache auf Leben und Tod!«
In seine Augen trat ein Zug von Besessenheit.
Ich seufzte innerlich. Vielleicht war das sein Tick. Ich würde ihm also zuhören. Wir Psychiater werden schließlich dafür bezahlt, daß wir zuhören.
»Also gut«, nickte ich, »schießen Sie los.«
»London 1888«, begann er, und seine Gedanken schienen sich in der Vergangenheit zu verlieren. »Es ging vom Spätsommer bis zum frühen Herbst. Aus dem Nebel, aus dem Nichts tauchte Jack the Ripper auf. Ein Schatten mit einem Messer in der Hand; ein Schatten, der den Osten von London unsicher machte. Eine besondere Vorliebe hatte er für die schmutzigen Gassen in Whitechapel und Spitalfields. Keiner wußte, woher er kam. Aber er brachte den Tod. Den Tod mit dem Messer.
Sechsmal durchschnitt dieses Messer die Kehlen von Londoner Frauen und zerstückelte ihre Körper. Meist waren es Huren und leichte Mädchen, die ihm zum Opfer fielen. Am 7. August zerfleischte er die erste Frau. Als man sie fand, wies ihr Körper neununddreißig Stichwunden auf. Er war ein grausamer Mörder. Am 31. August mußte sein nächstes Opfer das Leben lassen. Die Presse wurde auf sein Treiben aufmerksam. Aber die Bewohner der Slums interessierten sich fast noch mehr für ihn.
Wer war dieser unbekannte Mörder, der unter ihnen leben mußte und in ihren Straßen zu mitternächtlicher Stunde wütete? Und was noch wichtiger war: Wann würde er das nächstemal zuschlagen?
Er tat es am 8. September. Scotland Yard arbeitete auf vollen Touren. Die Gerüchte vermehrten sich und verbreiteten sich mit rasender Geschwindigkeit. Es waren nicht so sehr die Morde selbst als die Grausamkeit, mit der sie ausgeführt wurden, die die Menschen beschäftigte.
Der Mörder benutzte sein Messer mit absoluter Perfekti on. Er schnitt die Kehlen durch und trennte dann bei seinen to ten Opfern gewisse Körperteile ab. Er suchte seine Opfer und den Zeitpunkt der Tat mit teuflischem Bedacht aus. Kein Mensch sah oder hörte etwas. Aber dann stolperten die Polizisten auf ihrer Runde über die zerstückelten menschlichen Überreste, die ein neues Werk von Jack the Ripper waren.
Wer war er? Was war er? Ein verrückter Chirurg? Ein Schlächter? Ein wahnsinniger Wissenschaftler? Ein Entlaufener aus dem Irrenhaus? Ein degenerierter Adliger? Ein Mitglied der Polizei?
Dann erschien in den Zeitungen ein kleiner Reim von einem unbekannten Verfasser.
Ich bin kein Schlächter und kein Mann der Gosse,
Kein Jude, Neger oder Kohlenschipper,
Ich bin nichts weiter als ein lieber Zeitgenosse.
Ihr sehr ergebener Jack the Ripper.
Mit dem Abdruck dieses Verses sollten die letzten Ereignisse bagatellisiert werden, aber die Wirkung auf die Leser war gerade umgekehrt. Die Menschen wurden nur noch verstörter.
Und am 30. September wurden zwei weitere Kehlen durchschnitten.«
Ich rutschte ungeduldig auf meinem Stuhl hin und her und hatte das dringende Bedürfnis, den Redeschwall Sir Guys kurz zu unterbrechen.
»Sehr interessant«, murmelte ich, aber ich glaube, der Sarkasmus in meiner Stimme war nicht zu überhören.
Er zuckte leicht zusammen. Aber dann fuhr er unbeirrt mit seiner Erzählung fort.
»Danach herrschte in London für eine Weile Ruhe. Aber es war die Ruhe vor dem nächsten Sturm. Wann
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