15 Gruselstories
würde der ›rote Jack‹ wieder zuschlagen? Der ganze Oktober verging, ohne daß etwas geschah. Aber die Angst war nicht von den Menschen gewichen. Jeder Schatten im Nebel konnte Jack the Ripper sein. Er konnte überall und zu jeder Zeit auf sein nächstes Opfer lauern. Der November kam und mit ihm der rauhe Wind. Londons Straßenmädchen zitterten. Aber sie zitterten nicht nur vor Kälte. Sie atmeten immer erleichtert auf, wenn der nächste Morgen anbrach.
9. November. Sie fanden sie in ihrem Zimmer. Sie lag sehr ruhig und ordentlich auf dem Fußboden ausgestreckt. Und neben ihren Körper hatte man ebenfalls mit pedantischer Ordentlichkeit ihren Kopf und ihr Herz gelegt. Jack the Ripper hatte sich selbst überboten.
Als dieser Mord bekannt wurde, erreichte die Panik ihren Höhepunkt. Aber die Panik war unnötig. Die Presse, die Polizei und die Bevölkerung warteten voller Entsetzen auf die nächste Bluttat – aber Jack the Ripper schlug nicht mehr zu.
Monate vergingen. Als ein Jahr um war, war zwar die Furcht von den Menschen gewichen, aber die Erinnerung blieb. Man sprach davon, daß sich Jack nach Amerika abgesetzt hätte. Andere wollten wissen, daß er Selbstmord begangen hat. Bis zum heutigen Tage wird über Jack gesprochen und geschrieben. Es gibt tausend Theorien, Vermutungen, Kommentare und Abhandlungen. Aber trotz allem weiß kein Mensch, wer Jack the Ripper war. Oder warum er mordete. Oder warum er aufgehört hat, zu morden.«
Sir Guy schwieg. Er erwartete offensichtlich eine Äußerung von mir.
»Sie haben die Geschichte gut erzählt«, sagte ich schließlich. »Wenn auch mit einem gewissen gefühlsmäßigen Vorurteil.«
»Ich habe mir alle Unterlagen beschafft«, sagte Sir Guy Hollis. »Und ich habe das ganze Material sorgfältig studiert.«
Ich stand auf und tat so, als müßte ich ein Gähnen unterdrücken. »Mir hat Ihre kleine Geschichte sehr gefallen, Sir Guy. Ich finde es sehr nett von Ihnen, daß Sie Ihre Pflichten bei der Britischen Botschaft vernachlässigt haben, um einen armen Psychiater mit Ihren Anekdoten zu erfreuen.«
Er warf mir einen raschen Seitenblick zu.
»Ich nehme an, Sie wollen wissen, weshalb mich diese Geschichte so sehr interessiert, nicht wahr?« fragte er, und seine Stimme klang etwas heiser.
»Ja, das möchte ich wirklich wissen. Wieso interessiert Sie das?«
»Weil«, erwiderte Sir Guy Hollis langsam und ließ jedes Wort auf der Zunge zergehen, »weil ich jetzt auf der Spur von Jack the Ripper bin. Ich glaube, daß er sich hier aufhält. Hier, in Chicago!«
Ich ließ mich auf den Stuhl fallen. »Sagen Sie das noch einmal«, stotterte ich.
»Jack the Ripper lebt! Hier in Chicago! Und ich werde ihn finden!«
»Moment – Moment mal«, sagte ich. »Das ist doch wohl nicht Ihr Ernst?«
Er lachte nicht. Er machte keinen Spaß.
»Wann, sagten Sie, haben die Morde stattgefunden?« fragte ich eindringlich.
»Von August bis November 1888.«
»1888? Da man mit Sicherheit annehmen kann, daß Jack the Ripper zum Zeitpunkt seiner Morde ein ausgewachsener Mann war, muß er längst tot sein. Menschenskind, selbst wenn er 1888 geboren wäre, müßte er heute fünfundsiebzig Jahre alt sein!«
Sir Guy Hollis Lippen kräuselten sich zu einem spöttischen Lächeln. »Müßte er ? Könnte man nicht genauso sagen: müßte sie ? Jack the Ripper kann doch auch eine Frau gewesen sein – oder nicht? Vielleicht waren es auch mehrere Personen –«
»Sir Guy«, sagte ich milde. »Sie haben gut daran getan, zu mir zu kommen. Es besteht kein Zweifel, daß Sie die Hilfe eines Psychiaters brauchen.«
»Wer weiß … Haben Sie das Gefühl, Mr. Carmody, daß ich verrückt bin?«
Ich schaute ihn an und zuckte die Achseln. Aber eine direkte Frage verlangte eine
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